Sprint:Vorab eine Bratwurst

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Fast am Ziel: Gina Lückenkemper peilt über 100 m unter 11 Sekunden an, in Erfurt fehlten zwei Hundertstel. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Seit 26 Jahren schaffte es keine deutsche Athletin mehr, die 100 Meter in unter elf Sekunden zu laufen. Die 20-jährige Sprinterin Gina Lückenkemper kam dieser Marke nun sehr nahe: In 11,1 Sekunden wurde sie deutsche Meisterin.

Von Saskia Aleythe, Erfurt

40 statt 39 1/3. Ein paar Millimeter nur und schon hatte sich das Problem gelöst, das Gina Lückenkemper einige Monate quälte. MRT und Röntgenaufnahmen hatte die Sprinterin anfertigen lassen, um herauszufinden, woher die Schmerzen im linken Fuß kamen. Die simple Lösung offenbarte sich Mitte April: Der Schuh war zu eng. Und da wusste Lückenkemper: Auf den eigenen Körper zu hören, fängt bei den ganz einfachen Dingen an.

Samstagabend, letzter Lauf bei den deutschen Meisterschaften in Erfurt, da wird es noch einmal laut im Steigerwaldstadion, denn ihr Status ist mittlerweile dieser: Wenn eine Lückenkemper auf die Tartanbahn kommt, unterbricht auch schon mal ein Robert Harting sein Interview. In 11,01 Sekunden hatte sie im Halbfinale alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn unter 11 Sekunden war seit 26 Jahren keine Deutsche mehr gelaufen. Im Endlauf sprintete die 20-Jährige dann in 11,10 Sekunden zu ihrem ersten Titel über 100 Meter, trotz vermasseltem Start. "Ich bin irgendwie aus dem Block rausgefallen und dann noch ein bisschen gestolpert", sagte sie, "aber ich bin stolz auf mich, dass ich dann noch so gut ins Rennen reingefunden habe." Die Gedanken aufs Positive lenken, das ist auch so eine Stärke von ihr. Nach ihrem Finallauf drehte sie noch zwei Ehrenrunden durchs Stadion und ließ sich vom Publikum bejubeln. Laufen und Lückenkemper, das passt doch ganz gut zusammen.

Nur sechs deutsche Frauen sind jemals unter elf Sekunden gelaufen, zuletzt die mit Clenbuterol aufgefallene Katrin Krabbe im Jahr 1991. Für Lückenkemper eine Schallmauer, die sie durchbrechen kann. Mit einer Umstellung der Startposition - das rechte Bein ist nun vorne - verbesserte sie ihre Reaktionszeit. "Die zehn vor dem Komma kommt dann in den nächsten Jahren ganz bestimmt", sagte Lückenkemper, und man musste ihr weiter zuhören, denn sie sagte: "ein paar Mal". Es ist das Selbstbewusstsein, vor dem sich manch einer scheut, weil es ihm negativ ausgelegt werden könnte. Doch Lückenkemper machte es schon in den vergangenen Jahren zur Ausnahmeerscheinung in der deutschen Leichtathletik, zusammen mit ihrem Talent und den Bildern von der fröhlichen Sprinterin. Schon als 16-Jährige wurden ihr Olympiachancen vom Bundestrainer attestiert, mit 18 lief die Dortmunderin bei der U20-EM - und animierte das Publikum vor ihrem Start zur Stadionwelle. Der Name "Bratwurst-Gina" machte die Runde, weil sie vor Wettkämpfen gerne mal eine solche verdrückt. "Das war heute eine Sprinter-Wurst", sagte sie in Erfurt. Und lachte, denn Lückenkemper lacht viel.

Kopf und Fuß müssen zueinander passen, und wenn sie über ihren Körper redet, dann klingt das, als berichte sie von einem Freund, dem sie mal näher und mal ferner wäre. Der Kopf müsse entscheiden, ob sie auch über 200 Meter, ihrer eigentlichen Paradedisziplin (in Rio schaffte sie es ins Halbfinale) an den Start gehe in Erfurt, und am Sonntag sagte er ihr: "Lassen wir die 200 Meter mal weg." Sie hatte leichte Schmerzen im Fuß, "nichts Dramatisches", aber der Fokus liege nun auf der WM in London. Über 200 Meter wäre es für die EM-Bronze-Gewinnerin von 2016 mit der Norm ohnehin schwierig geworden, die Schuhprobleme haben sie in diesem Jahr zu lange beschäftigt. Und dann gibt es noch die Regelung des deutschen Verbandes: Wer in der 4x100-Meter-Staffel laufen möchte, darf nur einen Einzelstart über 100 oder 200 Meter absolvieren. Die Staffel liegt Lückenkemper am Herzen: Bei Olympia wurde sie Vierte, Ende Juni feierten sich die Deutschen auch dank der Sprinterinnen als Team-Europameister.

Lückenkemper ist keine Grüblerin, aber sie nimmt ihren Sport ernst und zuletzt hat sie nicht nur der eingezwängte Fuß beschäftigt. Nach bestandenem Abitur machte sie Erfahrungen in der Diamond League. Bedeutet: Viel Reisen und Organisieren, viel ungewohnter Trubel. "Das ist großer Zirkus", sagte sie, und auch: "Mein Gehirn stand kurz vor der Kernschmelze." Als im Training nichts mehr klappte, löste das ihr Trainer auf Lückenkempers Art: Er ging mit ihr Kaffee trinken und Currywurst essen, verordnete eine Woche Ausspannen. "Auch wenn's mir schwer gefallen ist: Die Ruhe hat mir gut getan", sagt sie. Auch wer seinen eigenen Weg geht, braucht mal einen Ratgeber.

© SZ vom 10.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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