Sprint:Filmriss beim Fliegen

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Die deutsche Sprinterin Gina Lückenkemper steigt nach ihrem EM-Silber über 100 Meter zur großen Unterhalterin der deutschen Leichtathletik auf.

Von Saskia Aleythe, Berlin

Eine Arena ist kein Pferdestall. Das Olympiastadion in Berlin findet Gina Lückenkemper "megageil", aber auch im Stall verbringt sie gerne ihre Zeit: "Das Pferd zu putzen, keiner will was von einem", das sind Momente, die sie sich als Ausgleich sucht zu dem Sprinterleben, das sie sonst so führt. Wie es ihrem Pferd Picasso geht, während sie in Berlin bei der Leichtathletik-EM gefeiert wird, darüber wird sie täglich informiert, "ich bekomme Bilder zugeschickt", sagte sie am Mittwochmorgen in Berlin. Da wollten gerade eine ganze Menge Leute etwas von ihr.

Um 8.30 Uhr saß sie schon wieder im Morgenmagazin der ARD, es sind Lückenkemper-Großkampfzeiten gerade, nachdem sie am Dienstagabend EM-Silber über 100 Meter gewonnen hatte, in 10,98 Sekunden, nur die Britin Dina Asher-Smith war mit 10,85 Sekunden schneller. Auf Freudensprünge folgten bei Lückenkemper Freudentränen und Kuscheleinheiten mit Maskottchen Berlino, danach hörte sie gar nicht mehr auf zu reden. Um halb zehn Uhr abends war ihr Rennen, um halb elf gab sie noch immer Interviews in Wettkampfmontur, "als ich fertig war, stand nur noch ein Korb mit Sachen da, und das war meiner", berichtete sie. Auch die Dopingkontrolle zog sich hin, erst um ein Uhr traf sie schließlich im Hotel ein, um halb drei schickte sie die letzten Fotos per Instagram raus. Medaillen zu gewinnen, kann ziemlich anstrengend sein. Vor allem, wenn man das neue Gesicht der deutschen Leichtathletik werden soll.

„Yeah!“: Gina Lückenkemper nach ihrem Silberlauf. (Foto: Vegard Wivestad Gray/imago)

"Ich habe den totalen Filmriss", berichtete die 21-Jährige am Morgen nach ihrem Rennen trotzdem gut gelaunt, der Filmriss hatte aber nichts mit Party zu tun, sondern damit, dass das Rennen komplett aus ihren Erinnerung verschwunden war.

Wie sie zum Startblock gelaufen war, wusste sie noch, "in so ein Stadion reinzukommen, wo alle einem nachbrüllen: Das ist brutal geil. Mega. Megageil", sagte sie und bezeichnete sich auch noch als "Kampfsau". Rampensau hätte sie da noch hinzufügen können, sie fühlt sich wohl in ihrer Rolle als Unterhalterin, immer schon. Sie wusste dann auch noch, dass ein Zuschauer im Stadion vorm Startschuss ihren Namen gerufen hatte. "Yeah!", habe sie sich da gedacht - und als dann die Pistole schoss, kam Lückenkemper nicht vom Fleck. Die Startblöcke seien "Kreisklasse", sagte sie später, die Auflagefläche für den Fuß zu klein, aber bei der Reaktionszeit weiß sie auch selber: Das ist schon immer ihr Problem gewesen. Deswegen leckte sie in der Vergangenheit wahlweise an Batterien oder praktizierte bestimmte Atemtechniken, die ihr der Neuroathletik-Trainer Lars Lienhard mitgegeben hatte. Vor den Wettkämpfen in Berlin hatte sie ihren neuesten Trick mitgeteilt: Wie sie sich im Kopf vorstellt, sie würde sich einmal um die eigene Achse nach rechts drehen, um Regionen im Gehirn zu stimulieren, die dann keine anderen Gedanken mehr zulassen sollen. Außer, man denkt halt: "Yeah!"

"Ich könnte meinem Körper Doping niemals zumuten. Ich könnte es niemals mit mir vereinbaren, meinen Körper mutwillig zu zerstören für eine Medaille", sagt Gina Lückenkemper

Nach 0,217 Sekunden reagierte sie erst, es war der langsamste Start aller acht Finalistinnen. Was danach passierte, ließ sich Lückenkemper später von ihrem Trainer erzählen. "Er hat mir gesagt, dass ich nicht die Fehler gemacht habe wie zuletzt", berichtete sie. Diesmal habe sie sich nicht zu früh aufgerichtet wie noch kürzlich bei den deutschen Meisterschaften in Nürnberg: "Ich habe mich nicht davon aus der Ruhe bringen lassen, dass ich im ersten Moment hinten alleine war. Ich habe mein Rennen durchgezogen." Erst mit der Ziellinie kam dann ihre Erinnerung zurück, "da habe ich gedacht: Bitte macht, dass es gereicht hat". Das Fotofinish ergab, dass sie die ehemalige Europameisterin Dafne Schippers aus den Niederlanden um eine Hundertstelsekunde geschlagen hatte.

Viele Tränen hat Lückenkemper im Stadion dann vergossen, weil auch eine selbstbewusste und schlagfertige Person von bis dahin unbekannten Gefühlen überflutet werden kann. Als Ziel für die EM hatte sie zwei Medaillen ausgerufen, eine solo, eine mit der Staffel, aber sie merkte nun: "So geil, wie es letzten Endes war, kann man es sich nicht vorstellen."

Unter elf Sekunden zu laufen, das war ihr im Vorjahr bei der WM zum ersten Mal gelungen, die 10,95 Sekunden aus dem Vorlauf konnte sie im Halbfinale nicht wiederholen, den Endlauf verpasste sie. In Berlin war sie durch ihre Vorleistungen schon fürs Halbfinale gesetzt, und schon das hatte sie mit 10,98 Sekunden beendet. Daran konnte sie sich auch noch erinnern. "Das war wie Fliegen", sagte sie mit ironisch verstellter Stimme, "jetzt kommen die Flachwitze wieder, Leute". Dass sie mit dem verpatzten Start im Finale noch Reserven hat, nahm sie als positives Zeichen für die Zukunft und fand ja überhaupt: "Es wäre schade, wenn ich mit 21 Jahren an der Spitze meiner Karriere angekommen wäre."

Zehenspitze voraus: Gina Lückenkemper (Bahn 6) schlägt die frühere Europameisterin Dafne Schippers (Bahn 3) um eine Hundertstelsekunde – nur die Britin Dina Asher-Smith ist ist einen Tick schneller im Ziel. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Unter elf Sekunden sind in der ewigen Bestenliste nur sechs andere deutsche Frauen gelaufen. Lückenkemper ist die erste seit drei Jahrzehnten und die einzige, die nicht aus dem DDR-Sportsystem stammt. Sie würde sich zwei getrennte Bestenlisten wünschen, sagte Lückenkemper und wurde auch noch deutlicher: "Ich könnte meinem Körper Doping niemals zumuten, ich könnte es meinem Gewissen niemals zumuten. Ich könnte es niemals mit mir vereinbaren, meinen Körper mutwillig zu zerstören für eine Medaille."

Im Verband gilt sie als Geschenk für die Leichtathletik, zum genau richtigen Zeitpunkt. Nun, wo Diskuswerfer Robert Harting von der großen Bühne verschwindet. Ihm nachzufolgen als Lautsprecher ihres Sports, kann sich Lückenkemper durchaus vorstellen, "weil ich keine Scheu habe, Dinge anzusprechen". Doch erst einmal sei Harting ja noch da, "dafür bin ich auch dankbar. Weil es eine krass heftige mentale Belastung ist", sagte Lückenkemper, die ihren Job mit viel Spaß erledigt, aber auch sie hat schon ihre Grenzen kennengelernt. Im vergangenen Jahr konnte sie deswegen zwei Wochen gar nicht trainieren, dieses Jahr ging es ihr zwischendurch drei Tage lang schlecht, "da wollte ich mich nur ins Bett legen und weinen. Obwohl es keinen Grund gab, die Saison lief wie geplant."

Und dann kommt eben wieder ihr Pferd Picasso ins Spiel, "dem ist es scheißegal, was ich mache, dem Pferd ist es scheißegal, wer ich bin", sagte Lückenkemper noch, "der ist einfach froh, wenn ich da bin." In Berlin hat sie noch einiges vor, sie will mit der Staffel am Sonntag eine Medaille holen. Doch auf den Besuch im Stall freut sie sich jetzt schon.

© SZ vom 09.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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