Sportförderung in Russland:Die bewegenden Schulen von Wolgograd

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Strenges Training und aktive Sozialpolitik soll aus armen Stadtkindern Medaillengewinner machen. Ein Beispiel für Russlands Wege aus der Tristesse.

Von Thomas Hahn

Die Reise in die Tiefen des russischen Sports beginnt dort, wo ein Anfang unmöglich zu sein scheint. Wolgograd, Woroschilowski-Distrikt. Trostlose Wohnblocks, verwitterte Fassaden. Es ist ein kalter Frühlingstag, Schneeflocken wehen über die löchrigen Straßen. Doch dann geht die Tür zur Turnhalle der Sportschule Nummer eins auf und die Hoffnung bekommt Gesichter. Musik spielt, konzentrierte Mädchen zeigen vollendete Bewegungen und Trainer Alexander Lisowoy, ein ruhiger, strenger Mann, berichtet, wie er genau hier, in seinem kalten Garten aus Barren und abgewetzten Matten eine der schillerndsten Karrieren Olympias mitbegründete und ein Beispiel dafür lieferte, wie Russlands Sport Wege aus der Traurigkeit weist.

18 Jahre ist es her, dass Natalya Sawostina Isinbajewa, Maschinistin im Wolgograder Heizkraftwerk, Frau des Klempners Gadschi, ihre Töchter Inna und Jelena hierher brachte. Inna war drei, Jelena fünf. Sie bestanden die Tests zur Aufnahme, bei denen Lisowoy Dehnbarkeit und Kraft prüfte, wobei Jelena ihm damals schon sehr groß vorkam. Er schlug vor, sie zur Rhythmischen Sportgymnastik zu schicken. Aber die Mutter wollte ihre Kinder nicht zu verschiedenen Schulen bringen.

Jelena blieb, und eine Kindheit ohne Illusionen begann: erstes Training um sieben in der Sportschule, danach in die Stadt zur allgemeinbildenden Schule, nachmittags zurück zum Turnen. Jelena wurde Meisterin der Region Wolgograd. Dann wuchs sie, mehr als es für eine Turnerin gut ist, und als Lisowoy im Fernsehen Stabhochsprung sah, kam ihm eine Idee. Er schickte Jelena zu Jewgeni Trofimow, der an der Sport-Akademie Stabhochsprung lehrte. Trofimow wollte eigentlich keine Frauen trainieren. Heute ist Jelena Isinbajewa die beste Stabhochspringerin der Welt, Olympiasiegerin und ein russisches Idol.

Die Helden von heute

Wolgograd hieß bis 1961 Stalingrad, und die Geschichte hat die Stadt zu einem besonderen Ort gemacht. Aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ist sie auferstanden, nachdem die Bomben Hitler-Deutschlands sie 1942 fast völlig zerstört hatten. Heute streckt sie sich wie ein Denkmal russischer Tapferkeit am Westufer der Wolga entlang. Die Vertreibung der Deutschen ist zum Mythos geworden, an den die Stein-Skulpturen am Mamajew-Hügel erinnern, Namen von Stadtteilen und Straßen, das Panorama-Museum am Fluss und die alte Mühle daneben, die letzte Ruine aus jener schlimmen Zeit.

Die Soldaten von einst gelten als Helden, und an denen richten sich viele junge Leute bis heute auf, was durchaus ein Standortvorteil ist, denn viel hat Wolgograd seinen eine Million Einwohnern nicht zu bieten. Die Stadt befreit sich nur zögerlich vom Image eines Provinz-Molochs mit viel steinerner Scheußlichkeit. Jelena Isinbajewa jedenfalls steht an der alten Mühle und sagt, dass dieser Ort ihr viel bedeute, weil er sie an den Wert der russischen Moral erinnere. "Daraus ziehe ich meine Kraft."

Besonders in der kalten Jahreszeit, wenn die Bäume wie düstere Gerippe vor sich hinstarren und die Blumenbeete leer sind, umgibt Wolgograd genug Tristesse, um den Sport als eine Zuflucht ins Glück erscheinen zu lassen. Und kann man im Sport nicht auch so eine Art soldatische Tapferkeit zeigen?

In Städten wie Wolgograd, die nicht den Glanz Moskaus oder St. Petersburgs aufbringen, ist der Sport noch ein Zimmer mit Aussicht, und davon profitiert ganz Russland, die große Sportmacht des Ostens. Allein bei den olympischen Leichtathletik-Wettkämpfen 2004 gab es drei Siegerinnen aus Wolgograd: Jelena Isinbajewa, die Dreispringerin Tatjana Lebedewa und die Hochspringerin Jelena Slesarenko.

Sie alle kommen aus Familien mit wenig Geld. Lebedewa, 29, Halbwaise, hat als Kind die Gesetze der Straße kennen gelernt, ehe der Sport sie rettete, und Slesarenko ging wie Isinbajewa früh auf die Sportschule. Sie alle sind in einem Sportsystem groß geworden, das keine unnötigen Zärtlichkeiten entbot, sie dafür nie irgendwelchen Amateurtrainern überließ. Und das mit seinen lokalen Dependancen, die wie staatliche Fitnessstudios den Unterricht in den normalen Schulen ergänzen, letztlich nichts anderes ist als aktive Sozialpolitik in Zeiten, da Eltern wenig Zeit für ihre Kinder haben, weil sie deren Unterhalt bestreiten müssen.

Wie in der DDR-Medaillenfabrik

Wenn man Valentin Balachnitschew, den Präsidenten des russischen Leichtathletik-Verbandes, nach dem Geheimnis des russischen Erfolgs fragt, sagt er: "Das Geheimnis sind die Sportschulen." Und obwohl er kein prahlerischer Mensch ist, fügt er hinzu, dass die Deutschen das Gleiche auch hätten haben können, wenn sie nur die Strukturen der DDR mehr geachtet hätten.

Die fragwürdigen Seiten der DDR-Medaillenfabrik übergeht er dabei natürlich, und auch die deutschen Ost-West-Konflikte nach der Wende, die Russlands Sportplaner nie störten. Denn die sowjetische Lehre in die Gegenwart zu übertragen, gilt hier als unumstrittenes Zukunftskonzept.

Ein "zentralisiertes System" nennt Balachnitschew dieses Erbe, wobei der Begriff ein bisschen irreführend ist. Die Belange der Nationalkader steuern allein die Verbandszentralen. Aber die Sporterziehung obliegt den regionalen Filialen der Moskauer Administration mit ihren Sportschulen, Sportgymnasien und Akademien, Behörden wie dem Komitee für Körpererziehung und Sport der Region Wolgograd also. Präsident Victor Iwanow verantwortet die sportliche Grundversorgung von drei Millionen Menschen, und allein in seinem Gebiet gibt es 78 Sportschulen nach Art jener im Woroschilowski-Distrikt. So viele Kinder wie möglich sollen eine Lehranstalt des Sports in ihrer Nachbarschaft haben.

Ein System ist immer nur so gut wie die Orte, an denen man einen guten Anfang machen kann. Und wieder öffnet sich die Tür zu einem Haus der Bewegung inmitten trauriger Wohnblocks. Dserschinski-Distrikt, Sportschule Nummer zehn. Jelena Slesarenko, heute 23, war sechs, als sie hierher kam. Sie tanzte zunächst, dann sprang sie, und heute hängen die Räume voller Bilder von ihr. Den 600 Kindern der Schule soll sie als Beispiel dienen.

Auch wenn es hier keineswegs nur um Medaillen geht, wie Direktorin Natalya Sawotskaja betont, eine große, blasse Frau mit strengen Zügen, zwischen denen ein rot geschminkter Mund blüht. Ringen, Sportgymnastik und Leichtathletik sind die Fachbereiche der Schule, aber auch Gesundheitssport. Neben vier Trainern und 25 Sportlehrern gehört eine Ärztin zum Personal, ebenso ein Masseur, und im Erdgeschoss gibt es einen Erholungsbereich mit Sauna.

Natalya Sawotskaja wirkt ein bisschen aufgekratzt, so geschmeichelt fühlt sie sich durch die Aufmerksamkeit. Und der Stolz auf ihre Schule scheint in jedem ihrer Schritte mitzufedern, als sie durch die Sporthallen führt, die eigentlich gar keine Hallen sind, sondern niedrige Klassenzimmer mit Matten statt Bänken oder Spiegeln statt Tafeln.

Im Parterre übt eine Gruppe Hochsprung auf altem Schaumstoff. Eine Treppe höher keuchen die Knaben der Ringer-Riege. Und nebenan durchbrechen sechs Mädchen mit ihrer Tanzkunst das graue Licht des Tages. Die Choreographie ist perfekt. Sogar das Lächeln haben sie trainiert. Die Mädchen sind nicht älter als zwölf.

Ob so viel Leistungssport gut für die Kinder ist, haben die Russen längst entschieden. "Anders geht es nicht, wenn man gute Ergebnisse haben will", sagt Victor Ivanow. Und was wäre schon die Alternative? Den Nachwuchs der Straße zu überlassen? Oder den Computern, deren Wirkung jemand wie die Sawotskaja fürchtet wie eine moderne Pest?

Die Moral ist wichtig im russischen Sport, und das betrifft angeblich auch das Thema Doping. Mittlerweile, muss man wohl sagen, denn Nelli Blinowa, Koordinatorin an der Sportakademie, berichtet, dass das Nein zu Drogen seit drei Jahren erst zum Bildungsauftrag bei der Jugendarbeit gehört. Und auch die jungen Meisterinnen lassen bei Fragen zum Sportbetrug nicht mehr automatisch die eisernen Vorhänge fallen. Jelena Isinbajewa zumindest sagt, dass sie die Weltantidopingagentur Wada gut finde, und Doping für sich ausschließe, weil sie keine Frau mit Bart werden wolle.

Das Interesse an einer nationalen Antidopingagentur ist in Russland trotzdem gering, was auch daran liegen mag, dass so eine unabhängige Kontrollinstanz teuer ist. Geld ist immer eine große Sorge. Wolgograds Sportkomitee bekommt 400 Millionen Rubel vom Staat, etwa 11 Millionen Euro. Aber Iwanow sagt: "Ich brauchte drei Mal so viel."

Man sieht es den Sportstätten an. Die Leichtathletik-Halle nahe dem Mamajew-Hügel ist vor fünf Jahren renoviert worden. Aber schon die Freiluftanlage hinter der Akademie sieht ziemlich alt aus; vorerst leuchten nur die Bahnen vor der Weitsprunggrube in frischem Rot, die wohl für Tatjana Lebedewa erneuert wurden. Die Mechanismen des Sportbusiness sind eben noch nicht in jeden Winkel Russlands vorgedrungen. Es gibt keine steuerlichen Anreize für Sponsoren. Und die Marketing-Aktivitäten der olympischen Verbände erwachen erst langsam.

Von der Armut gestählt

Geschäftssinn ist gefragt, um zu überleben, nicht mehr nur russische Tugend, was wiederum Skepsis schürt. Denn natürlich gibt es auch im russischen Kapitalismus jenen Argwohn, der immer aufkommt, sobald Idealisten feststellen, dass sich die Welt verändert. "Die neuen russischen Familien verwöhnen ihre Kinder", sagt Direktorin Sawotskaja, und Nelli Blinowa findet, dass die Kinder früher belastbarer waren. Sie misstrauen dem Zauber des wachsenden Wohlstands. Ihr Sport hat vom Mangel doch immer ganz gut gelebt, und gleichzeitig den russischen Mythos mit Leben erfüllt. "Vom Boden zu den Sternen, ja, das sind wir", sagt Jolanda Chen, einst Weltrekordlerin im Dreisprung, heute Fernseh-Journalistin, und lächelt gerührt. Aber was geschieht, wenn der Boden den Sternen eines Tages zu nahe kommt?

Die Reise in die Tiefen des russischen Sports endet dort, wo ein Ende unmöglich zu sein scheint. Gerade hatte Jelena Isinbajewa noch durch ihr Sportgymnasium geführt, hinauf zur Bildergalerie der ehemaligen Schüler, die heute berühmte Athleten sind wie sie, Lebedewa oder Schwimm-Olympiasieger Popow. Und lachend hatte sie erzählt, wie sie hier manchmal Ärger bekam, weil sie nach einem langen Tag mit Training und Unterricht zu müde für die Hausaufgaben war.

Jetzt streift sie durch die kahlen Zimmer ihrer neuesten Errungenschaft. 156 Quadratmeter im achten Stock eines Hochhauses, das zwischen anderen Zweckbauten um einen schmutzigen Hof gewachsen ist. Es gibt behaglichere Wohngegenden, aber Jelena Isinbajewa wird bald hier einziehen. Sie will nicht weg aus Wolgograd.

Die Stadt ist ihr Gebiet, sie mag die Leute, und wenn erst mal der Sommer da ist, sagt sie, gibt es auch Farben, weil dann die Bäume leuchtendes Laub tragen und die Blumen in den Beeten blühen. Außerdem kann sie hier nicht vergessen, dass das Leben kein Traum ist. Jelena Isinbajewa denkt an die staubigen Straßen, an die zerbombte Mühle, an die Botschaften in den Steinen ihrer Heimat. Dann blickt sie tief in die verwöhnten Augen des Westens und sagt mit einer sanften Überzeugung, die keinen Zweifel zulässt, dass Wolgograd eine schöne Stadt sei.

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