Spielsysteme:Aggressiv, aber geduldig

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Deutschland gegen Italien am Taktik-Tisch analysiert.

Moritz Kielbassa

Einmal links, einmal rechts: Deutschlands Pfade zum WM-Gipfel führen über außen. Anfangs dominierten Lahm und Schweinsteiger auf links, doch die erste große Bundesparty startete vis-a-vis: durch Schneiders und Odonkors Vorlage zum Polen-Siegtor.

Gegen Argentinien funktionierte erneut der banale Taktikkniff, die rechte Seite per Einwechslung offensiv zu stärken (durch Dauerrenner Odonkor). Und auch gegen Italien sind sich die Experten einig: Wenn es Schlupflöcher gibt in dieser hoch gelobten Abwehr, dann außen.

Den Analytikern des DFB fällt es diesmal schwer, beim Gegner nennenswerte Problemzonen zu finden. Italien hat ein kompaktes, technisch exzellentes Kollektiv, das zwar sein Offensivvermögen bisher nur bescheiden andeutete, dafür reif und diszipliniert verteidigt hat.

Pärchenbildung nutzen!

Dennoch zeigten die WM-Spiele: Mit schnellem Flügelspiel ist die Squadra zu knacken. Als kleine Schwachstelle gilt Linksverteidiger Grosso. Ursprünglich war hier der Platz von Zambrotta, doch der besetzte zuletzt den vakanten Verteidigerposten rechts - mit viel Offensivdrang.

Für alle deutschen Seitenspieler gilt: Außen die Pärchenbildung nutzen, flott kombinieren - und scharf in den Rücken der Abwehr flanken, möglichst flach, denn bei hohen Hereingaben sind Cannavaro und der bullige Materazzi (oder doch Nesta) im Kopfballspiel kaum zu bezwingen. Abwehrchef Cannavaro hat 70 Prozent seiner Zweikämpfe gewonnen.

Klose und Podolski sollen die Verteidigung unten am Boden beschäftigen. Abwechselnd will man Cannavaro und Materazzi aus dem Abwehrzentrum locken; in die frei werdende Lücke im Strafraum kann der andere Stürmer stoßen - oder Ballack. Standards sollen scharf mit Schnitt vors Tor geschlagen werden.

Die taktische Schlüsselfrage lautet: Wo postiert Deutschland sein Mittelfeld, ab welcher Zone wird aggressiv gestört? Achtelfinalgegner Schweden wollte viele lange Bälle aus der Abwehr direkt in die Spitze schlagen, so rückte das DFB-Mittelfeld weit nach vorne, um mit forschem Pressing den Spielaufbau im Keim zu ersticken.

Resolute Spaßkicker sein!

Anders gegen Argentiniens Kurzpassfreunde, die kultiviert durchs Mittelfeld kombinieren wollten: Deutschland zog sich tief in die eigene Hälfte zurück, oft zu zehnt hinter die Mittellinie. So wurden Räume und Anspielstationen versperrt, die Ballstafetten der Südamerikaner kamen nicht in Gang. Damit gelang der Beweis, dass Klinsmanns Spaßkicker auch resolut verteidigen können.

Gegen die variablen Italiener gibt es kein einfaches Pauschalrezept. Man sollte sie permanent stören und zu Fehlern zwingen (wobei das Pressing bei Klose und Podolski beginnt). Andererseits muss man geduldig sein, weil schon ein 0:1 gegen derart zähe Ergebnisverwalter fatal wäre. Seit dem 1:4 im März weiß man, dass es eine Todsünde ist, wenn die Viererkette zu weit zur Mittellinie aufrückt - und damit den Italienern ihre geliebten Konterräume abbietet.

Die Vorherrschaft im Mittelfeld kann nur durch viel Laufarbeit und schnelles Umschalten erkämpft werden; erst recht, wenn Toni die einzige Spitze ist. Dann hat Italien im Mittelfeld Überzahl (Totti als offensiver Freigeist eingerechnet), und Ballack und Kehl (oder Borowski) sollten tief stehen - zumal sich Perrotta über links anschleicht und rechts Camoranesi viel Druck macht.

Lässt sich Totti ins Mittelfeld fallen, muss ihn Kehl (Borowski) eng übernehmen und seine Steilpässe in die Spitze verhindern. Auch mit Weitschüssen ist Totti gefährlich; ebenso bei Freistößen, weshalb Fouls in Strafraumnähe dringend zu vermeiden sind.

Auf ihn stürzen!

Italiens Angreifer werden von Spiel-macher Pirlo häufig auf die Flügel geschickt, mit raumgreifenden Diagonalbällen. Pirlo ist der Dirigent und Tempomacher, kommt Italien in Ballbesitz, müssen sich Ballack oder Kehl (Borowski) sofort auf ihn stürzen. Der nicklige Gattuso erledigt die Grobarbeit, seiner Härte muss sich Ballack geschickt entziehen.

Vorne klappte gegen die Ukraine die 4-5-1-Variante Lippis bisher am besten: Totti als hängende Spitze - und davor nur der wuchtige Torjäger Toni, dominant im Kopfball, aber auch technisch versiert; ein verzwickter Fall für Mertesacker und Metzelder.

Beim 4:1 in Florenz harmonierten Toni und Gilardino als Doppelspitze, deshalb spekuliert Italiens Presse auch über diese Lösung, zumal Camoranesi am Knie verletzt ist. Diskutiert wird zudem die Hereinnahme von Außenverteidiger Oddo.

© SZ vom 4.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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