Spielregeln:Gegen Treter und tragische Zufälle

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Die strengere Regelauslegung schützt das attraktive Spiel, doch für Sperren nach gelben Karten ist ein neuer Modus nötig.

Christoph Biermann

Wahrscheinlich würden die Hüter der Ordnung auf Mark Viduka hinweisen - oder vielleicht auch auf Anatolij Tymoschuk. Der defensive Mittelfeldspieler aus der Ukraine hat sich für sein Team ordentlich in die Zweikämpfe geworfen, mit insgesamt 32 erfolgreichen Tacklings führt Tymoschuk die Rangliste bei dieser Weltmeisterschaft an.

Dabei hat der Mann mit den langen, blonden Haaren und dem blau-gelben Haarband nur einmal die gelbe Karte gesehen. Der australische Stürmer Viduka hingegen ist der Spieler, der während dieser Weltmeisterschaft zwar die meisten Fouls begangen hat, 16 in den 360 gespielten Minuten, dafür aber kein einziges Mal verwarnt worden ist.

Es ist also durchaus möglich, dass man körperbetont spielt, Zweikämpfe sucht und dabei auch ein Foulspiel riskiert, ohne gleich vom Platz gestellt zu werden oder nach zwei Verwarnungen zuschauen zu müssen.

Alle Kartenrekorde übertroffen

Andererseits hat sich die verschärfte Regelauslegung der Fifa in einer Flut von gelben Karten und Hinausstellungen niedergeschlagen. Selbst wenn man die beiden Halbfinalspiele, das Finale und die Partie um den dritten Platz nicht mit einrechnet, hat die WM 2006 schon jetzt alle bestehenden Kartenrekorde übertroffen.

27 Mal gingen Spieler vorzeitig vom Platz, das sind zehn Rotsünder mehr als vor vier Jahren und immer noch fünf mehr als beim bisherigen Rekord in Frankreich 1998. Auch die 293 gelben Karten sind bereits jetzt eine Zahl, die noch nie zuvor erreicht wurde.

Im Prinzip ist diese strengere Interpretation der Spielregeln zu begrüßen, denn sie schützt fast immer die kreativen Spieler und damit den schönen Fußball. Man braucht sich für das Gegenteil nur an die Weltmeisterschaft 1982 in Spanien zu erinnern, damals wurden lediglich fünf Spieler vom Platz gestellt und nur 98 Verwarnungen ausgesprochen (allerdings gab es auch zwölf Spiele weniger).

So konnten die Klopper einen Diego Maradona genauso aus dem Turnier treten wie das brillante brasilianische Team. So etwas wäre heute kaum noch vorstellbar, und das hat die Bedingungen für flüssigen, attraktiven Fußball deutlich verbessert.

Für diese Ästhetik bedarf es jedoch auch außergewöhnlicher Spieler, und die mussten die Fans wegen der lockerer sitzenden gelben Karten bei diesem Turnier bereits einige Male vermissen.

So fehlte Zinédine Zidane im letzten Gruppenspiel der französischen Mannschaft, das auch das letzte seiner Karriere hätte sein können. Portugals Deco konnte im Viertelfinale gegen England nicht dabei sein. Man könnte nun ganz nüchtern argumentieren, dass sie sich ihre Regelverstöße eben besser einteilen oder gar nicht erst begehen sollten.

Kein Finale ohne die Besten

Auch der Moment, der zu den ganz besonderen in der sportlichen Biographie von Michael Ballack gehört, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

Im Halbfinale der WM 2002, als in der 71.Minute des Spiels gegen Südkorea Torsten Frings den Ball verlor und Lee Chun-Soo die Chance zu einem Konter ermöglichte, war Ballack jener Spieler, der den Davoneilenden noch stoppen konnte.

Das war jedoch nur regelwidrig möglich, und Ballack wusste, dass er für dieses professionelle Foul seine zweite gelbe Karte in der K.o.-Runde sehen und im Finale gesperrt sein würde. Das Foul wurde zu einer Art Opfergang, und Ballack hätte es wohl leichtfertiger begangen, hätte es keine Folgen gehabt. Dieser Zwang zur Abwägung trägt allgemein zur Befriedung des Spiels bei.

Auf der anderen Seite will man bei Weltmeisterschaften die besten Spieler der Welt auch wirklich sehen. Doch nach dem Halbfinale zwischen Frankreich und Portugal könnte es nun durchaus sein, dass das Endspiel in Berlin ohne Patrick Vieira, Lilian Thuram oder Zinédine Zidane angepfiffen wird.

Oder es fehlen bei Portugal Luis Figo, Ricardo Carvalho, Nuno Valente und Torhüter Ricardo, weil sie die zweite Verwarnung gesehen haben.

Angesichts der vielen gelben Karten für leichte Vergehen besteht die Gefahr, dass im größten Fußballspiel, das es nur alle vier Jahre gibt, die größten Spieler wegen einer Lappalie nicht dabei sind.

Daher sollte sich die Fifa für ihre kommenden Turniere einen neuen Modus überlegen, nach dem es Sperren etwa erst nach der vierten gelben Karte im gesamten Turnier gibt. Das würde tragische Zufälle ausschließen, und nicht nur Mark Viduka und Anatoli Tymoschuk müssten sich keine Sorgen mehr machen.

© SZ vom 5.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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