Skispringer Alexander Herr:Das Wagnis Angst

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Der Deutsche widerspricht der Theorie, dass mehr Mut seinen Sturz in Willingen verhindert hätte.

Von Thomas Hahn

Den letzten Jubel am Mühlenkopf hat Alexander Herr gar nicht mehr gehört, und das war wohl auch ganz gut so, denn der hätte ihn doch nur wieder daran erinnert, wie nah Leichtsinn und massenhafte Begeisterung zusammenliegen.

Der Moment danach: Alexander Herr nach seinem Sturz in Willingen. (Foto: Foto: Reuters)

Der Wind blies am Sonntag nicht mehr so stark wie noch tags zuvor, als er sich im Willinger Sturm einen Kreuzbandriss zugezogen hatte, aber immer noch so wechselhaft, dass die Ergebnisse seltsam weit auseinander lagen. Georg Späth, neben Michael Uhrmann (Vierter) derzeit Deutschlands bester Skispringer, landete schon nach 108,5 m, Janne Ahonen dagegen erreichte seinen elften Saisonsieg mit einem Satz, der selbst die Weitenmessung überforderte. 152 m offiziell, Schanzenrekord.

Aber tatsächlich hatte er sich vom Aufwind wohl noch drei Meter weiter tragen lassen. Alexander Herr jedenfalls war das Ergebnis suspekt.

Sein Sport stellt ihn auf eine harte Probe, sein Sturz vom Samstag war für ihn ein echter Gau, nachdem er ohnehin schon so viele Verletzungen wie kaum ein anderer verwinden musste, zeitweise aus dem Weltcupkader gefallen war, sich vergangenes Jahr wieder herangekämpft hatte und in dieser Saison als feste Größe im deutschen Team galt.

Traurig und wütend

Er ist traurig und wütend, und er fürchtet um seinen weiteren Werdegang, auch wenn er sich längst geschworen hat, nach der Operation mit aller Kraft das Comeback anzusteuern. Denn wie der Sturz auf sein Unterbewusstsein wirkt, kann er noch nicht sagen, er weiß nur, dass es schwer wird, sich von diesem Rückschlag zu erholen.

Bei seinem ersten Kreuzbandriss fiel er ähnlich wie in Willingen, danach kämpfte er lange mit den Gedanken daran im Unterbewusstsein. Aggressiv drückte er sich aus der Spur, aber wenn es ganz weit hinunterging, wagte er es oft nicht, seinen Flug zu Ende zu führen. Vergangenes Jahr in Liberec verpasste er deshalb bei schlechter Sicht seinen ersten Weltcupsieg, und der damalige Bundestrainer Wolfgang Steiert sagte: "Wenn er seinen Killerinstinkt auspackt, kann er der Weltspitze noch gefährlicher werden."

Willingen und die alten Wunden

Angst ist ein gesunder Schutzmechanismus, aber sie kann einen Springer auch hemmen, weshalb er versuchen muss, genau das auszuprägen, was Steiert "Killerinstinkt" nennt, den Angriff ohne Gedanken an mögliche Konsequenzen. Also arbeitete Herr im Sommer daran, und zwar mit Erfolg, wie er glaubte. Dann kam Willingen, und die alten Wunden in der Seele rissen wieder auf.

Etwas Schlimmeres kann einem Springer kaum passieren, und deswegen kann Trainer Hans-Paul Herr auch zwei Tage später noch nicht über den Unfall sprechen. "Verstehen Sie, ich bin sein Vater und Trainer, ich bin im Moment nicht so weit. Es ist jetzt schon mehrere Male passiert."

Zum Sturz des Alexander Herr gibt es die Theorie, dass er seinen Sprung hätte durchziehen sollen. Den Mut zusammennehmen, den Aufwind als Freund, nicht als Feind verstehen und sich von ihm auf eine neue Bestweite tragen lassen. Dann hätte er sicher landen können. Aber das ist leichter gesagt als getan für einen Springer der bei 130 km/h feststellt, dass der Aufwind ihn zu hoch hebt.

Zweitens wäre Herr dann vermutlich bei 160 Metern gelandet. Ob er das hätte stehen können? Herr selbst findet den Einwand "fast schon eine Frechheit", und einen weiteren Hinweis darauf, dass einige Verantwortliche die Kräfte nicht mehr einschätzen können, denen sich ein Skispringer aussetzt. Er hat seinen Sprung analysiert und für sich festgestellt: "Ich hätte nicht besser reagieren können."

Gefährlicher Wind

Das hört natürlich kein Wettkampfleiter und Trainer gern, weil das letztlich heißt, als dass sie ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden sind. Aber so will Herr durchaus verstanden werden. Irregulär, aber nicht gefährlich, lautete in der Szene die weit verbreitete Meinung über die Bedingungen am Samstag. Herr sieht das anders: "Ich denke schon, dass es gefährlich war. Der Wind war nicht abpassbar."

Und dann berichtete er auch noch, dass er seine Zweifel auf dem Turm unterdrückt habe, um keinen schlechten Eindruck zu machen. In Kuopio hat er bei Böen einmal seinen Start storniert. Die Folge: "Von vielen Leuten in der sportlichen Leitung bin ich damals als Angsthase hingestellt worden." Das hatte Herr nicht vergessen, als er den Windmesser tanzen sah. "Ich wollte viele Kritiker Lügen strafen", sagt Herr, "und habe ich mich selber gestraft."

Damals haben seine Chefs versagt, denn es muss erlaubt bleiben, unter Umständen auch mal Angst zu haben. Jetzt sitzt Alexander Herr da mit seinem Einzelschicksal und ist sich ziemlich sicher, dass sich wenig ändern wird. "Die Jury reagiert nicht. Die haben keine Skrupel", ruft er. Im Live-Programm wird gesprungen, so unsinnig es auch sein mag. Und beim nächsten Sturz werden wieder alle sehr betroffen sein.

© SZ vom 11.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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