Shkodran Mustafi:Held für einen Tag

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Ersatz-Verteidiger Mustafi erhält nach seinem Tor zum 1:0 im Spiel gegen die Ukraine unerwartete Aufmerksamkeit.

Von Philipp Selldorf, Lille

Shkodran Mustafi war der erste deutsche Spieler, der in der Interview-Zone im Bauch des Stadions das tat, was dort zu tun ist: Er gab Interviews. Von überallher rannten die Leute herbei, um ihm zuzuhören - als wäre er der Prophet, auf dessen Wort sie sehnsüchtig gewartet haben. Mustafi ist aber weit entfernt davon, sich für einen Erleuchteten zu halten, weshalb er sich nicht damit begnügte, ein- für allemal die Wahrheit vom Berge Sinai zu verkünden. Stattdessen verkündete er sie alle drei Meter aufs Neue. Statt zu sagen: "Das habe ich, verdammt noch mal, Ihren Kollegen schon zig Mal erklärt", fing er seine Ansprache immer wieder von vorne an. So war er nicht nur der erste deutsche Spieler in der Mixed Zone, sondern auch der letzte. Fortgezerrt musste er werden, im Bus wartete die Mannschaft.

Mustafi, 24, hatte Grund, ausführlich zu erzählen. Im Schnelldurchgang: Bis vor Kurzem besetzte er im DFB-Bus einen der hinteren Plätze. Der Bundestrainer hatte ihm die Rolle eines Stellvertreters des Stellvertreters zugedacht. Als sich dann Antonio Rüdiger - Mats Hummels' Stellvertreter - verletzte, rückte Mustafi ins Team, und dies unübersehbar. Erste markante Amtshandlung: Ein Ballverlust, der ganz Deutschland in Gefahr brachte. Zweite markante Tat: Der Kopfball, der das 1:0 brachte. Am Ende des Abends waren es nicht nur Sympathie und Solidarität, die ihm das Lob seiner Kollegen eintrugen. "Musti hat eine tolle Leistung gezeigt", sagte Manuel Neuer. "Er war sehr stark in den Zweikämpfen", befand Toni Kroos.

Als Innenverteidiger solide, als Offensivkraft erfolgreich: der moderne Vorstopper und DFB-Torschütze Shkodran Mustafi. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Mustafi schien ziemlich überwältigt zu sein vom schnellen Fortgang der Ereignisse. Er hatte sich darüber gefreut, dass er mitreisen durfte zur EM, aber er hatte keine großen Erwartungen gehabt. In den Testspielen gegen die Slowakei und gegen Ungarn spendierte ihm Joachim Löw keinerlei Einsatzzeit, das musste Mustafi als klares Indiz seines Stellenwertes betrachten. Bei der Partie in Lille sah er sich daher überfallartig herausgefordert: "Es ist nicht ganz einfach, wenn man nicht spielt und auf seine Chance wartet - und dann kommt sie gleich in einem so wichtigen Spiel. Da herrscht ein unglaublicher Druck, mit dem man erst einmal fertig werden muss", sagte Mustafi. Sein Kopfballtor hat ihm diesen Druck nicht genommen. Statt sich auf den Champagner zur Feier des Abends zu freuen, ermahnte er sich: "Da war natürlich große Freude und Erleichterung. Aber ich wusste gleichzeitig, dass noch 70 Minuten zu spielen sind. Deshalb galt: Konzentration hochhalten, meinen Job machen - und erst nach dem Spiel feiern. Es geht so schnell im Fußball. In der einen Minute wird man zum Helden, in der anderen kann man zum Deppen werden."

Niemand wird Mustafi nach diesem gelungenen Abend zum Depp erklären, allerdings könnte es sein, dass er der Held für einen Tag bleibt. Auch Mats Hummels spazierte in Lille durch die Interviewzone, seine Ansprache an die Reporter dauerte bloß ein paar Sekunden, aber das reichte zur Verkündung einer weiteren Botschaft: Der Stammverteidiger meldete sich für das Spiel am Donnerstag gegen Polen wieder gesund.

© SZ vom 14.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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