Schalke 04:Ein Klub verliert seine Kinder

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Nach dem Europa-League-Knockout gegen Ajax Amsterdam fühlen sich die Schalker wieder mal vom Fußballgott verraten. In der Liga besteht Abstiegsgefahr, der Aufbruch in eine bessere Zukunft muss vertagt werden.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Um Viertel nach eins in der Nacht standen die Autos rund ums Stadion immer noch im Stau, aber zumindest einer bewegte sich dennoch, und das war eine der erfreulichen Nachrichten an diesem unseligen Schalker Europacup-Abend. Leon Goretzka setzte mühsam und beherrscht den einen Fuß vor den nächsten, seine beiden Begleiter hatten ihn fürsorglich in ihre Mitte genommen, aber immerhin: Er durfte und konnte nach Hause gehen, das hätte man ja kaum für möglich gehalten, als er nach 83 Minuten im Status eines medizinischen Notfalls den Platz verlassen musste. Die solidarischen Gesten der Mit- und der Gegenspieler, die ihm auf den letzten Metern zuteil wurden, nahm er zwar entgegen, aber vermutlich kaum noch wahr, Goretzka schien sich in einem Stadium zwischen Bewusstsein und Betäubung zu befinden. Es klang makaber, als Benedikt Höwedes später erklärte: "Wir sind alle stolz darauf, dass er sich für uns aufgeopfert hat." Längst befand sich da der Patient in notärztlicher Obhut.

Schalkes Vorkämpfer Goretzka ist buchstäblich kilometerweit über die Schmerzgrenze gegangen, um sein Team ins Halbfinale der Europa League zu bringen, doch sein Einsatz und sein Leiden wurden nicht belohnt. Während der 22 Jahre alte Mittelfeldspieler auf dem Weg ins Krankenhaus war, wo der doppelt ausgerenkte Kiefer versorgt wurde, büßten die Mitspieler den 3:0-Vorsprung gegen Ajax Amsterdam doch noch durch einen Gegentreffer ein, den Höwedes im Nachhinein als "Eiertor" schmähte - was ihn noch mehr daran glauben ließ, dass Schalke wieder mal vom Fußballgott verraten wurde. Eine Karambolage, bei der Verteidiger Matija Nastasic um eine Viertelsekunde zu spät kam und deshalb Gegenspieler Nick Viergever anschoss, versperrte plötzlich den eben noch wundersam geöffneten Weg ins Halbfinale. "Das war das fürchterliche Ende eines tollen Spiels", wie Klaas-Jan Huntelaar nach seinem letzten Europacup-Einsatz für Schalke klagte. Die melodramatischen Umstände des heroisch errungenen, aber letztlich wertlosen 3:2-Siegs kamen leidgeplagten Schalkern bekannt vor. Versagen, wie beim 0:2 im Hinspiel, aufstehen, hoffen, jubeln - und zum Schluss scheitern: klassisches Schalke-Theater in mehreren Akten. Oder, wie Höwedes in verständlichem Überschwang sagte: "110 Minuten war es ein Freudentaumel sondergleichen" - und dann fiel ein Eiertor.

"Sinnbildlich für die Saison: dass wir Höhen und Tiefen und kein Glück haben."

Für den Trainer Markus Weinzierl, der die metaphysischen Aspekte des Phänomens Schalke noch nicht verinnerlicht hat, weil er immer noch wie ein Zugereister darauf schaut, war das ganze Drama bloß ein weiterer profaner Reinfall: "Sinnbildlich für die ganze Saison: dass wir Höhen und Tiefen und kein Glück haben."

Höhen und Tiefen, kein Glück und der elfte Tabellenplatz - nicht die Bilanz, die er sich von seinem ersten Schalke-Jahr erträumt hat, und auch nicht das Resultat, das sich der Verein vom Wechsel des sportlichen Führungsstabs erhofft hatte. Der Aufbruch in eine erfolgreiche Zukunft muss erneut vertagt werden.

Am Donnerstag hat Schalke die letzte Chance vergeben, dieser missglückten Saison ein gutes, womöglich glorioses Ende zu geben. Alle guten Geister hatte man für diesen Zweck mobilisiert. Die Helden des Uefa-Cup-Triumphs von 1997 hatte man ins Stadion gerufen, von Huub Stevens und Youri Mulder bis Marco van Hoogdalem, und es hat tatsächlich eine Weile so ausgesehen, als ob sich die doch eigentlich ziemlich abstrusen Beschwörungen des Eurofighter-Mythos auf die Generation Burgstaller & Caligiuri übertragen hätten.

Nach der von Vorsicht und Furcht bestimmten ersten Hälfte fassten die Schalker Mut und fingen an, sich selbst zu übertreffen. Guido Burgstaller etwa stoppte in Kopfhöhe Bälle mit der Fußspitze und drehte dann seine 1,87 Meter um den nächsten Abwehrspieler, als ob er der Gummi-Mann Mr. Fantastic wäre. Benedikt Höwedes wagte nie zuvor Gesehenes: Einen Fernschuss aus 30 Metern (der folgerichtig auch circa 30 Meter übers Ziel flog). Und Nabil Bentaleb gewann diesmal nicht bloß den Preis für die riskantesten Dribbel-Eskapaden, sondern auf einmal auch einen defensiven Zweikampf nach dem anderen. "In Amsterdam waren wir die Euro-Lämmchen, heute waren wir die Eurofighter", sinnierte Verteidiger Sascha Riether, den Weinzierl aus den Tiefen seines kleinen Kaders hervorgeholt hatte.

Im Mittelpunkt aber stand weiterhin Leon Goretzka. Ende der ersten Halbzeit war er heftig mit Ajax-Torwart Andre Onana zusammengestoßen, es sah nicht gut für ihn aus. Dass er überhaupt zur zweiten Halbzeit zurückkehrte, dass er dann in einem Energieausbruch das 1:0 schoss, dass er dieses Tor mit einer Balleroberung am eigenen Strafraum eingeleitet hatte, dass er sich fortan würgend und hustend weiterquälte und fast so oft notverarztet werden musste wie Bastian Schweinsteiger im WM-Finale - das alles war der Stoff für eine neue Schalker Heldensage. Das ganze Stadion rief seinen Namen, als Goretzka vom Platz ging beziehungsweise taumelte.

Aber hätte er dort überhaupt noch sein dürfen? Manager Christian Heidel trat am Freitag Deutungen und Vorwürfen entgegen, der Klub habe die Gesundheit des Spielers riskiert, als er ihn nach der Pause wieder auf den Rasen schickte. Die am Abend - unter anderem von Trainer Weinzierl - verbreitete Darstellung, dass sich Goretzka habe übergeben müssen, die sei "ein großer Irrtum" gewesen, so Heidel: "Ich habe nebendran gestanden. Er hat gewürgt, weil sie ihm den Kiefer eingerenkt haben. Wenn er Symptome einer Gehirnerschütterung gehabt hätte, hätten wir ihn nicht mehr aufs Feld gelassen." Zumindest eine leichte Gehirnerschütterung soll er allerdings schon erlitten haben.

Der Kämpfer Goretzka hat die Mentalität, um in Schalke als Nationalheiliger verehrt zu werden. Das Problem für den Klub besteht darin, dass er auch noch richtig gut Fußball spielen kann. Möglicherweise zu gut für den in Rückstand geratenen Standort Gelsenkirchen, der erstmals seit acht Jahren einer Saison ohne Europacup entgegensieht. Im Fall von Sead Kolasinac, 23, dem anderen Hauptdarsteller des zweiten Ajax-Abends, Flankengeber für die Tore zum 2:0 und 3:0, zeichnet sich die Konsequenz der tendenziell schwindenden Perspektive deutlich ab. Auch Kolasinac ist ein potenzieller Kultspieler und ein Schalker aus dem Bilderbuch, aber wie Goretzka hat er den Ehrgeiz, Karriere zu machen. Sein ablösefreier Wechsel nach England gilt als unvermeidlich, er folgt damit dem Beispiel des in Liverpool gelandeten Teamkollegen Joel Matip, auch ein Zögling der Nachwuchsschule. Dazu Leroy Sané, Julian Draxler - Schalke verliert seine Kinder. Dem Umbruch mit zehn neuen Spielern unter Aufsicht des neuen Managers Heidel muss ein weiterer Umbruch folgen.

Am Donnerstag hat wohl auch der Trainer Ralph Hasenhüttl den Abend genossen. Mit RB Leipzig besucht er Sonntag die Schalke-Arena. Die Emporkömmlinge wollen die Qualifikation zur Champions League sichern - die verhinderten Schalker Europacupsieger brauchen Punkte für den Klassenverbleib. Symbolischer kann man die neuen Zeiten kaum illustrieren.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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