Rot für Rostock, Rot für Bayern:Einer weniger ist einer mehr

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Fußball ist manchmal etwas sonderbar. In Überzahl verlieren die Münchner Bayern in der Partie gegen Hansa Rostock ihre Linie, die sie erst mit einer Roten Karte gegen den eigenen Spieler wiederfinden.

Der Spielfilm aus Rostock ist vielseitig verwendbar. Taugen würde er als Lehrvideo für angehende Trainer. Wissenschaftler könnten versuchen, anhand des 2:0-Sieges des FC Bayern an der Ostsee Massenphänomene in Mannschaftssportarten zu beschreiben. Und für Hirnforscher ließe sich eine Testreihe zu folgender Frage anregen: Warum empfinden Fußballprofis das Mehr häufig als ein Weniger?

Oder einfacher: Warum spielt eine Mannschaft, die einen Spieler durch Platzverweis verliert, in Unterzahl besser, während die Überzähligen aus dem Tritt geraten? Als Referent wäre Felix Magath zu empfehlen, Urheber der These vom vermeintlich Widersinnigen: "Mit der Roten Karte haben wir unsere Linie verloren, die wir erst wiedergefunden haben, als Kuffour auch Rot sah."

In dieser Kurzkritik des Trainers ist fast schon alles enthalten, was dem Erfolg der Bayern in Rostock seinen Reiz gab, die psychologisch wichtigen Momente der Partie und deren wellenartiger Verlauf. Bis zu dem Augenblick, in dem David Rasmussen in Ball und Beine rauschte (37.), schienen die Münchner alles unter Kontrolle zu haben, das Publikum, den Gegner und die Emotionen.

Inkonsequenz vor dem Tor

Obwohl stark dezimiert und nur mit 17 statt der erlaubten 18 Profis angereist, hatten sie eine der besten halben Stunden der Saison gezeigt. Vier, fünf Mal zielten sie aufs Tor, zudem verweigerte Schiedsrichter Lutz Wagner einen Elfmeter (David Rasmussen an Frings). Bei Rasmussens nächster Attacke aber, hinterrücks angesetzt gegen Bastian Schweinsteiger, zog Wagner folgerichtig Rot - mit einem tausend Mal beschriebenen, aber immer wieder erstaunlichen Effekt: die Minderheit fühlt sich ungerecht behandelt und erhebt sich gegen die Mehrheit.

Förderlich für die Geister der Revolution war auch die Inkonsequenz der Bayern zuvor vor dem Tor: "Das Vergeben der Chancen ist ja immer auch ein Signal an den Gegner: Och, es geht ja was! Och, wir haben ja heute Glück!", dozierte Magath.

Diese Signale wandelten die Rostocker in Energie um, verschärft durch den Schweden Marcus Lantz, der als eine Art Agent provocateur auftrat. Ständig versuchte er, mit Gesten das Publikum zu mehr Lärm und den Schiedsrichter zu einer Konzession zu bewegen. Wer weiß, was passiert wäre, hätte er darauf verzichtet.

Nun aber war Lantz es selbst, der aktiv mithalf, dass erneut ein Bruch in die Dramaturgie geriet: dieses Mal durch eine Rote Karte gegen die Bayern, vor der Sammy Kuffour grob fahrlässig grätschte, was Lantz als Hilfestellung für seinen spektakulären Hechtsprung nahm. "Absolut lächerlich", nannte Bayern-Manager Uli Hoeneß das Gesehene, doch das war auch der eigenen Partei geschuldet.

Ab dieser Aktion aber, ab dieser 75. Minute, brach die Rostocker Welle, Bayern übernahm wieder die Regie, traf durch Sagnol (82.) und Scholl (85.). Der Grund zur Aufruhr war für den Außenseiter verflogen, mit fünf Heimniederlagen zum Saisonstart hält Hansa nun einen traurigen Rekord. Trotzdem ist auch künftig davon abzuraten, freiwillig einen Spieler hinaus zu schicken, sobald der Gegner eine Rote Karte sieht. Kein Psychologe wird für den Erfolg garantieren.

© Süddeutsche Zeitung vom 25.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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