Robert Harting:Ein Leben in neun Sekunden

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Abschied mit Sauergeschmack: Robert Harting wird in seinem letzten großen Diskus-Finale Sechster. (Foto: Tobias Schwarz/AFP)

"Zu Ende ärgern und freuen": Diskuswerfer Robert Harting wird noch einmal in den Ring steigen - aber er akzeptiert, dass seine Wettkampfkarriere nach der Europameisterschaft vorbei ist.

Von Saskia Aleythe

Die Augen waren klein. Robert Harting hatte sein Bett nur "berührt" nach diesem Abend in Berlin, schon am Donnerstagmorgen ging es ja weiter mit Gesprächsrunden, und noch ist er sehr gefragt. Zwei Plätze neben ihm auf dem Podium saß Zehnkämpfer Arthur Abele, und das war dann schon ein interessantes Bild: Abele in der Mitte als Goldgewinner, Harting weiter links als Harting, mit EM-Platz sechs. Und dann sprach er, und die Komplexität der Leichtathletik spiegelte sich darin wider. "Man versucht, ein ganzes Jahr in so ein Format reinzupressen", sagte der Diskuswerfer, "sechs mal 1,5 Sekunden, das kann natürlich nicht immer gut gehen." Zehnkämpfer haben da deutlich mehr Zeit, zum Sich-Beweisen oder zum Scheitern. Harting blieben neun Sekunden im Ring, die über Erleichterung oder Enttäuschung entschieden.

Ein ganzes Jahr lang hatte er sich mit diesem Abend in Berlin schon auseinandergesetzt. Wie er wieder in diesen Ring treten würde, aus dem er bei der WM 2009 mit Freudenschreien und Tränen in den Augen hinausgeschritten war - und Gold gewann. Es war der erste große Titel in einer aufregenden Karriere, mit dem Olympiasieg 2012 in London, mit drei mal WM- und zwei mal EM-Gold. Der perfekte Ort also, um nun die Karriere auf internationaler Bühne zu beenden und dem schmerzenden Körper Erleichterung zu verschaffen. 37 000 Zuschauer klatschten ihm zu, er war bärtiger und muskulöser als der 24-Jährige von früher, die Atmosphäre im Stadion fand er "nicht vergleichbar mit 2009. Es war sehr viel intensiver". Und als er am Mittwochabend nach seinem Wettkampf die ersten Interviews gab, merkte er, dass all seine Vorbereitung auf diesen Moment nichts half: Er war von seinem Abschied überfordert.

Für seine Erlebnisse benutzte er recht unterschiedliche Beschreibungen, man erlebte einen Robert Harting, dem die Stimme stockte, er fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. "Erdrückend, erleichternd, nicht berauschend, ein bisschen traurig", zählte Harting seine Gefühle auf, "es ist sehr viel gerade. Ich muss noch ein bisschen rumsitzen, mich zu Ende ärgern und dann wieder freuen." Ärgern, weil die Medaille möglich gewesen war. Freuen, weil er nun nicht mehr die Schmerzen ertragen muss, die ihm das Diskuswerfen zuletzt bereitete.

In Christoph Harting, Piotr Malachowski und Daniel Jasinski hatten sich alle drei Medaillengewinner der Rio-Spiele 2016 schon in der Qualifikation verabschiedet, im Finale machten dann Goldgewinner Andrius Gudzius aus Litauen und Daniel Stahl aus Schweden mit Würfen über 68 Meter die vordersten Plätze unter sich aus. Der Österreicher Lukas Weißhaidinger kam mit 65,14 Metern zu Bronze - eine Weite, an die Harting Anfang Juni bis auf einen Zentimeter auch schon wieder herangekommen war. Daran, dass er in Berlin 65 Meter werfen würde, hatte Harting vorab überhaupt keinen Zweifel. Zwischenzeitlich lag er auf Rang zwei, doch es wurden dann eben nur 64,33 Meter, und als er zum letzten Mal bei einer EM aus dem Ring trat und Rang sechs auf der Anzeigetafel stand, dachte er sich: "Scheiße, jetzt kannst du es nicht mehr geradebiegen. Weil du es einfach nicht mehr machst."

Das zu akzeptieren, fiel Harting am Mittwochabend schwer, er kämpfte mit der Situation und dachte für einen Moment laut darüber nach, vielleicht doch noch weiterzumachen. "Ich bin ja erst 32, theoretisch gingen noch zwei Jahre ...", sagte er, fand aber schnell zu den Gründen zurück, warum er schon vor einem Jahr diesen Abschied geplant hatte. Der Kampf gegen den eigenen Körper muss ein Ende finden, auch der Kopf will sich erholen. "Es war mental so anstrengend", sagte Harting, der sich in Berlin ein Brett unter die Matratze hatte legen lassen, um nicht zu weich zu liegen. "Am Anfang der Saison bin ich nachts mit brennenden Sehnen aufgewacht, weil ich so durchliege", erzählte er, und mit den Sehnen hat er es ja. Vor allem der Riss der Quadrizepssehne im rechten Knie war sein bestimmendes Thema in den vergangenen Monaten gewesen. "Jeden Tag ist die in deinem Kopf und du versuchst, es zu regeln. Das ist nervenaufreibend, auch für mein Umfeld", sagte Harting. Seine Frau Julia werde sich nun freuen, "das Knie auch".

Auch wenn er nicht viel Schlaf gefunden hatte, formulierte Harting am nächsten Tag dann noch klarere Worte. "Ich wollte es schon immer mal wie Sandro Wagner machen: Hiermit trete ich aus der Nationalmannschaft zurück", sagte er, ein Comeback vom Rücktritt werde es nicht geben. Am 2. September steht noch das Istaf-Meeting an, es wird sein allerletzter Auftritt im Olympiastadion. "Ich werde dann am 3.9. aufstehen und mich nicht mehr fragen: Wie kriegst du es heute im Training hin. Das ist schön, wenn man das nicht mehr hat".

Als Student der Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation beschäftigt sich Harting längst mit Dingen abseits des Sports, "außersportlich sollte man auch seine Erfahrungen machen". Es werde nicht lange dauern, "dann habe ich neue Aufgaben", sagte er. Vermutlich welche, bei denen es nicht allein auf neun Sekunden ankommt.

© SZ vom 10.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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