Revierderby:Rächer mit Schuhgröße 57

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Nach dem Ende eines sportlich interessanten Revierderbys steht plötzlich Schalkes Maskottchen im Mittelpunkt. Erwin mit der Knollennase muss möglicherweise sogar vor den DFB-Kontrollausschuss.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Das Maskottchen Erwin gehört zu den dienstältesten Mitarbeitern des FC Schalke 04. 1995 hatte Rudi Assauer den knollennasigen Kollegen eingestellt, dessen Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Verteidiger Mladen Krstajic rein zufällig ist. Seitdem versieht Erwin seine Pflichten nicht nur während der Heimspiele, er beehrt außerdem Hochzeiten, Jubiläumsfeiern, Kindergeburtstage und karitative Anlässe, es ist ein Fulltime-Job. Erwin ist all die Jahre immer ein vorbildlicher Sportsmann gewesen, das wird auch sein Dortmunder Kollege "Emma" nicht bestreiten. Für den einzigen Eklat seiner Karriere konnte Erwin nichts: Es war nicht seine Schuld, dass sich Kiya Jones, 4, erschreckte und schreiend davonlief, nachdem sie ihren Vater Jermaine in der Kabine besuchte und dort den riesenhaften Erwin vorfand.

Erwins tadelloser Leumund könnte von strafmildernder Bedeutung sein, wenn der DFB nun meinen sollte, das Maskottchen maßregeln zu müssen, weil es nach dem 1:1 zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund dem Schiedsrichter Felix Zwayer eine rote Karte vorhielt. Die besondere Note dieser Tat bestand darin, dass Zwayer den Schalkern kurz zuvor den Handelfmeter vorenthalten hatte, den sie so unbedingt für angebracht hielten, weshalb es nun so aussah, als ob Erwin als Rächer der Entrechteten eingesprungen wäre.

Der frühere Bundesliga-Schiedsrichter Peter Gagelmann, der dem TV-Sender Sky als Experte beisteht, bezeichnete den Vorgang als Skandal, und als alle noch an einen Aprilscherz glaubten, rief er ernsthaft nach dem Kontrollausschuss. Und nicht nur er. Bild-Ratgeber Torsten Kinhöfer vertrat dieselbe Auffassung. Auch Zwayer selbst war zunächst pikiert, erst nachdem ihn Erwin um Pardon gebeten hatte, stellte er Humorbereitschaft in Aussicht. Dennoch nahm er den Vorfall ins Protokoll auf. Ob der DFB reagieren wird, ist offen.

Rote Karte für den Schiedsrichter: Schalkes Maskottchen Erwin verteilt seine beißende Kritik an Felix Zwayer (links) mit offenem Mund. (Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty)

Ein Verfahren wäre zweifellos wunderbar, allerdings nicht für die Verbandsjustiz, die mit Spott und Satire zu rechnen hätte. Schalkes Mittelstürmer Guido Burgstaller kündigte bereits eine Sammlung zur Finanzierung von Erwins Rechtsbeistand an. Manager Christian Heidel versprach, eine öffentliche Verhandlung anzustrengen, der Angeklagte werde selbstredend in Dienstkleidung erscheinen.

Der Mann im Maskottchen versichert, er habe die rote Karte nur zurückgeben wollen

Wie man die Schalker kennt, wären sicherlich auch Solidaritätsmärsche der Fans zu erwarten. Erwin würde weltweit zum Freiheitshelden werden.

Dem unfreiwilligen Hauptdarsteller des sportlich eigentlich ausreichend interessanten Revierderbys war die Sache jedoch peinlich. Holger Becker, der Mensch hinter der Knollennase, hatte schwer an seinem 4-XL-Kostüm zu tragen (allein die Schuhe haben Größe 57), immer noch schwitzte er, als er lange nach dem Spiel in den Feierabend ging. Erwin bzw. Becker versicherte, er habe Zwayer nur die rote Karte zurückgeben wollen, die auf dem Rasen gelegen hatte. Dieser verweigerte jedoch die Annahme, denn seine Karte steckte noch in der Tasche, den zweiten Pappkarton hatte ein Zuschauer in den Innenraum befördert. Was mehr nach Missverständnis als nach Anlass zu moralischer Erregung klingt.

Bis zu den Wirren in der Nachspielzeit hatte Zwayer mit der spät auf Touren gekommenen Partie leichtes Spiel gehabt. Nur einen Fehler hatte er womöglich begangen: Als der Schiedsrichter kurz vor Dortmunds 1:0 hätte eingreifen müssen, hatte er nicht genau genug hingesehen. Denn bevor Dembelé per Steilpass auf Kagawa den Konter zuspitzte, hatte Schalke die Chance zum 1:0 gehabt, doch gerade als Burgstaller zum Schuss ausholte, klammerte der clevere Sokratis mit griechisch-römischem Ringergriff am Oberschenkel des Gegenspielers. "Ich hätte schreien und fliegen sollen", bereute Burgstaller.

Handspiel? Keine Frage. Handelfmeter? Vielleicht. Die einen sagen so, die anderen so. Die Aktion des Dortmunders Marc Bartra blieb ungeahndet. (Foto: Martin Meissner/AP)

In der anderen Schlüsselszene stand Benedikt Höwedes im Mittelpunkt. Die Aufregungen zum Schluss hätte es wohl nie gegeben, wenn Aubameyang einen weiteren Konter zum 0:2 genutzt hätte. Höwedes ahnte, dass Aubameyang ausnahmsweise nicht aufs Tor schießen, sondern den Ball wie beim 0:1 quer legen würde, "und deshalb habe ich nicht abgeschaltet und den Sprint durchgezogen". Damit hatte Aubameyang offenbar nicht gerechnet. Höwedes rettete in vermeintlich aussichtsloser Lage, und BVB-Trainer Thomas Tuchel beklagte später mit Recht, aber ohne Anzeichen von Verärgerung den Mangel an Entschlossenheit in seiner Mannschaft.

Nach der Führung hatten die Borussen eine Weile wie der folgerichtige und rechtmäßige Derbysieger ausgesehen, aber mit der Einwechslung von Alessandro Schöpf und Max Meyer (70. Minute) änderte sich das Bild. Schalke fasste den Mut, den es zuvor hatte vermissen lassen. So kam Thilo Kehrer, der nächste erfolgreiche Absolvent der Schalker Nachwuchsakademie, zu seinem ersten Bundesligator. Das Derby sei dafür doch "ein sehr guter Zeitpunkt", stellte der 20 Jahre alte Verteidiger fest, der nun binnen weniger Monate steil Karriere gemacht hat: vom Reservisten in die Stammelf und ins U 21-Nationalteam.

Nach dem 1:1 war Schalke plötzlich näher am Sieg. Die größte denkbare Schnulzengeschichte allerdings blieb aus. Der eingewechselte Klaas-Jan Huntelaar hätte in seinem wahrscheinlich letzten Derby als potenzieller Elfmeterschütze bereitgestanden, wenn Zwayer das Handspiel von Marc Bartra geahndet hätte. Hat er aber nicht, und "ein Sieg wäre, ehrlich gesagt, auch nicht verdient gewesen", meinte Höwedes. Letztlich war es, so was gibt's auch, für beide Seiten ein glücklicher Punktgewinn, ein friedfertiges Ende. Aber dann kam Erwin.

© SZ vom 03.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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