Reportage:Erstes Stolpern zweier Helden

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Athen im Schock - hat man die Kontrollen unterschätzt?

Von Holger Gertz

Gegenüber vom großen Pressezentrum, dem MPC, steht eine Anzeigetafel, darauf ist Werbung für Coca Cola und Platz für vier Ziffern. 1000 Tage vor Beginn der Spiele haben sie in Athen begonnen, die Tage in roten Leuchtbuchstaben runter zu zählen, aus vier Ziffern wurden drei, wurden zwei, wurde eine, und Donnerstagabend stand da eine große rote Eins, von der Dachterrasse des MPC aus konnte man sie wunderbar sehen. Bald würde Mitternacht sein, sie würde auf null springen, und die Null ist so etwas wie ein zahlgewordener Startschuss: Es geht los.

Aber, kurz vor Mitternacht fingen die Handys von ein paar Reportern an zu klingeln, bald rannten einige ein paar Stockwerke tiefer, zu den Computern, und schnell hörte man die Amerikaner etwas von breaking news raunen. Ein Gerücht erst, das sich im Laufe der Nacht und des folgenden Tages zur Nachricht verdichtete. Kostas Kenteris, 200-Meter-Olympiasieger 2000 in Sydney, und Ekaterina Thanou, 100-Meter-Europameisterin, sind zu einer Dopingkontrolle nicht erschienen, und nach den Regeln wird das gewertet, als wäre jemand positiv getestet worden und als Betrüger überführt.

Am folgenden Tag - auf der Anzeigetafel stand die zu ihm passende Null - wurde in vielen Gremien beraten, wie mit dem Fall umzugehen sei, aber schon da war klar, dass der erste Tag der Spiele auch sein letzter sein würde, jedenfalls wenn man "Spiele" wörtlich nimmt und daran glaubt, es gehe dabei um Wettlaufen und solche Sachen.

Die wahre Kerndisziplin

Natürlich geht es um Wettlaufen, aber in einem anderen Sinn. Die einen, das sind die Sportler mit ihren Ärzten, entwickeln immer neue Mittelchen, mit denen man sich dopen kann, und wenn man sich gedopt hat, entwickeln sie immer neue Mittelchen, mit den man das Doping wieder verschleiern kann. Die anderen, das sind die Dopingfahnder.

Sie haben bessere Methoden mittlerweile, und weil das Internationale Olympische Komitee (IOC) inzwischen von Jacques Rogge angeführt wird, können diese Methoden endlich auch richtig angewandt werden. Und deshalb haben die Dopingfahnder in diesem Wettlauf - der olympischen Kerndisziplin - in der letzten Zeit gewaltig aufgeholt. Das merkt man bei diesen Spielen.

Was sind das für Spiele, in Athen, in Griechnland, wo alles anfing? Auf den Straßen kommt man sich morgens manchmal vor, als wäre ein Ausgehverbot verhängt worden. So verlassen wirkt alles, dass einem Plastiktüten auffallen, die der Wind in der Gegend umherweht. Die Atmosphäre ist nicht besonders, viele Eintrittskarten sind nicht verkauft, es ist alles völlig anders als in Sydney. Die Sache mit Kenteris jetzt passt zu dieser Stimmung.

Kostas Kenteris: In Athen kann man in einer U-Bahn fahren, die Kenteris heisst. Die Fähre von Piräus nach Lesbos heißt: Kenteris. Die Griechen nennen ihn den "Sohn des Windes". Kostas Kenteris, der bei großen Turnieren abräumte, zwischendurch aber immer wieder abgetaucht ist; der sich verletzt meldete, wenn eine Dopingkontrolle anstand. Kostas Kenteris, 31 Jahre alt, von der Insel Lesbos, deren Hauptstadt Mytilini heißt und über ein Stadion verfügt. Es heißt Kenteris.

Der Läufer Kostas Kenteris ist vielleicht so etwas wie die Verkörperung des modernen Menschen, der Held sein darf, solange man ihn gewähren lässt. Er könnte, in den vergangenen Tagen und Wochen und Monaten, an denen er seinen privaten Countdown runtergezählt hat, einen inneren Monolog gehalten haben, ungefähr so: Sie werden mir nichts tun, die Spiele sind in Griechenland, die Spiele brauchen Helden, das Fernsehen will Helden, die Griechen wollen Helden.

Ich bin ein Held. Ich sehe aus wie eine Statue, die man mit Menschenhaut verkleidet hat. Ich soll die Flamme entzünden bei der großen Feier. Also, ich kann machen was ich will, wer will mir da Schwierigkeiten machen? Einen Tag, bevor es losgeht? Wer will die Spiele kaputtmachen? Irgendwie ist die letzte Entwicklung im Olympischen Sport da an ihm vorbeigesprintet.

Schauplatz des Schreckens

In Athen sind natürlich jetzt alle sehr verzweifelt. Die Shuttle-Busse überfüllt, die Polizeiabsperrungen nerven, der Baustaub fliegt noch überall herum, und auf den Straßen, die nicht für die Olympiabusse gesperrt sind, drängt sich alles bei mindestens 35 Grad im Stau.

Ein paar andere Helden, wie die Tennisspieler Jennifer Capriati und Serena Williams, vorher schon der Radler Lance Armstrong, haben abgesagt und Athen erst gar nicht bereist. Sie werden von den scharfen Doping- Kontrollen gehört haben. Und wenn es so weitergeht, könnte der Stau Richtung Flughafen in den nächsten Tagen dichter werden, weil der eine oder andere Athlet den Schauplatz des Schreckens schnell verlassen will, bevor er am Ende noch in eine Kontrolle gerät und alles auffliegt.

Ein Tag in Athen, der Tag der Eröffnung. Die Fackel wird durch die Stadt getragen, von verbissen lächelnden Fackelträgern, vorbei am Hilton-Hotel, in dem Kenteris vor der Diszpiplinarkommission erscheinen sollte und nicht erschien. Und auf der Anzeigetafel, gegenüber der Terrasse vom MPC, blinkt am Ende nicht mal mehr die Null. Die Zeit ist ablaufen - und alle Lichter sind aus.

© Süddeutsche Zeitung vom 14.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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