Remis in der Nachspielzeit:Zahl statt Kopf

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Später Ausgleich: Kerem Demirbay (verdeckt) macht das 1:1 gegen Köln. (Foto: Lars Baron/Getty Images)

Köln zeigt sich nach schwächeren Leistungen deutlich verbessert. Beim 1:1 gegen Hoffenheim bleibt dennoch nur ein Punkt.

Von Philipp Selldorf, Köln

Julian Nagelsmann ist ein Trainer, der das Spiel analysiert wie der Arzt das Röntgenbild. Er erkennt die Geheimnisse des Fußball-Organismus, die gewöhnlichen Menschen verborgen bleiben. Und wo der Arzt kundig über Pancreas und Gallenwege referiert, da erstellt Nagelsmann aus dem Stand Diagnosen über verschobene Abwehrketten und versperrte Zwischenräume; bei der TSG Hoffenheim sagt man ihm ein entrücktes Bewusstsein für die abstrakten Details nach, auf neudeutsch gesagt: Man hält ihn für einen Nerd.

Wie weit die Wissenschaft den Fußball durchdringt, das bleibt ein akademisches Debattenthema. Für die eigentlichen Akteure stellt sich die Sache oft viel einfacher dar, so wie es beim Treffen des 1. FC Köln mit Julian Nagelsmanns Hoffenheimern zu erleben war. Mag der junge Trainer auch noch so tief in die Strukturen dieser Partie eingetaucht sein und noch so versierte Anleitungen vermittelt haben - am Schluss richtete sich die Entscheidung über den Spielausgang nach dem Prinzip des Münzwurfs, wie der Kölner Kapitän Matthias Lehmann verriet: In den finalen Minuten habe Hoffenheim auf gut Glück einen Ball nach dem anderen in den Strafraum befördert, "und dann heißt es: Kopf oder Zahl?" Im vorletzten Moment war das Glück auf Seiten der Gäste: Kerem Demirbay schob den Ball mit viel Gefühl zum 1:1 in die Ecke des Kölner Tores, der gute FC-Keeper Timo Horn kam nicht heran - und schleuderte anschließend wütend seine Handschuhe durch die Gegend.

Er hatte allen Grund dazu: Dieses Ausgleichstor war nicht das Ergebnis der beharrlichen Überlegenheit eines mit Recht auf Platz drei notierten Spitzenteams, sondern eine Zufallslaune. "Weder war es unser Unvermögen noch war es Abgezocktheit der Hoffenheimer", schilderte Lehmann den Hergang, "es gab Gestocher im Strafraum, wir kriegen den Ball nicht raus, Yuya (Osako) rutscht weg: kann passieren ..."

Köln zeigt endlich wieder Disziplin und taktische Finesse

Den Kölnern hätten die drei Punkte gutgetan, um die Ausgangslage im Rennen um die Plätze für die Europa League zu verbessern, doch es gab keine öffentlichen Klagen über den spät verloren gegangenen Lohn eines guten Spiels. Es gehört weiterhin zur Vereins-Maxime und zur Pflicht eines jeden Profis, das genügsame Dasein im Hier & Jetzt zu loben. Dieses 1:1 hinterlasse zwar "kein Bombengefühl", konzedierte der Vorredner Lehmann, "aber ein gutes Gefühl: So kann man ins Wochenende gehen". Fragen nach Auswirkungen auf den Konkurrenzkampf um die vorderen Ränge wies er auf durchaus einschüchternde Weise als deplatziert zurück.

Einstweilen wollen sich die Kölner am moralischen Ertrag erfreuen. Nach zwei schwachen Auftritten (beim 2:3 gegen Mönchengladbach und beim 1:2 in Augsburg) bot die Mannschaft am Freitagabend eine gute und vor allem geschlossene Leistung. An diesem Abend fand sie zu der Linie zurück, die sie während der Vorrunde so stark gemacht hatte.

Den überlegenen spielerischen Qualitäten der TSG setzten die Kölner Disziplin und taktische Finesse entgegen, Nationalspieler Jonas Hector organisierte mit Lehmann geschickt die Teamordnung. Die berüchtigte Hoffenheimer Offensive fand keinen Raum zur Selbstverwirklichung, obwohl Nagelsmann einen stürmischen Spieler nach dem anderen aufs Feld brachte. Einziges Manko der Kölner: Aus mehreren Kontermöglichkeiten, die sich nach der Führung durch Leonardo Bittencourt (58. Minute) ergaben, machten sie zu wenig. Offensiv-Spielmacher Yuya Osako hatte nach ausgestandener Verletzung nicht seinen besten Tag, auch Milos Jojic verpasste durch Zaudern eine gute Gelegenheit, und zum Schluss vergab Anthony Modeste seine einzige Möglichkeit, als er zum Solo startete statt den goldenen Schuss zu setzen - klarer Fall von persönlicher Fehlentscheidung. "Das ist der einzige Vorwurf, den man uns machen kann: dass wir nicht den Deckel draufgemacht haben", befand Timo Horn.

Hoffenheim hat einen Europapokal-Platz sicher

Die Hoffenheimer begrüßten den späten Ausgleich und glücklichen Punktgewinn euphorisch. Die komplette Bankbesatzung rannte in Jubelsprüngen auf den Platz, es herrschte eine Ausgelassenheit, als ob in diesem Moment das seit vielen Monaten verfolgte Ziel erreicht worden wäre. Was faktisch sogar stimmt: Die Teilnahme an der Europa League ist der TSG vier Spieltage vor der Schlussabrechnung nicht mehr zu nehmen. Aber mit dem kleinen Europapokal wollten sich die Aufsteiger des Jahres nicht bescheiden, erklärte Nagelsmann - nicht aus Überheblichkeit ("ich sage auf keinen Fall: Scheiß Europa League. Das ist ein guter Wettbwerb"), sondern aus begründetem sportlichem Ehrgeiz.

Noch soll es deshalb keinerlei Freudenfeier und erst recht kein Freibier geben. Wenn er um fünf ins Bett gegangen sei und um halb acht wieder aufstehen werde, so kündigte Nagelsmann an: "Dann gibt´s vielleicht ein Lächeln". Aber warum um Gottes Willen musste er am Samstagmorgen um halb acht aufstehen? "Weil wir um zehn Uhr ein Training haben und ich das Training vorbereiten muss", antwortete Nagelsmann, den sie in Hoffenheim, wie gesagt, für einen Trainer-Nerd halten.

© SZ vom 23.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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