Radsport:Wie von einem Samuraischwert zerteilt

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Wie der Tour-Domestike Daniel Becke im Schatten der Stars bei einem Unfall "in eine Felswand eintauchte" und danach zwei Wochen voller Angst weiterfuhr.

Von Andreas Burkert

Am Sonntagabend ist in Paris viel über Glück geredet worden. Jan Ullrich sagte immerzu, wie glücklich er sei, als Dritter und gesund die Kapitale erreicht zu haben. Auch beim Team Gerolsteiner stellten sie nach der Ankunft auf dem Place de la Concorde ausnahmsweise die Wasserflaschen zur Seite und prosteten sich mit Champagner zu, weil die Equipe erstmals vollzählig nach Paris gelangt war. 2003 hatten sie nur zu dritt die Ehrenrunde absolviert, "nach einer Ansammlung von Pech", wie sich Teamchef Hans-Michael Holczer erinnerte, "diesmal sind wir sehr stolz und glücklich." Das galt auch für Jens Voigt, der das Gelbe Trikot erobert hatte, ehe er nach einer Quälerei auf dem Galibier mit Schüttelfrost und 40 Grad Fieber aus dem Zeitlimit flog. Sonntagnacht marschierte der aus Berlin angereiste Profi um drei Uhr zur Tourparty ins "Douplex", er sah glücklich und gut erholt aus. Doch vermutlich ist das alles nichts gegen jenes Glück, das Daniel Becke seit einiger Zeit empfindet. Genauer gesagt: seit der neunten Etappe, die er nie mehr vergessen wird. Denn er hat sie überlebt, und ohne ein wenig Glück hätte dieser Tag der letzte in seinem Leben sein können.

Daniel Becke ist 27 und ein guter Bahnfahrer, 2000 in Sydney gewann er im Vierer Olympiagold. Er stammt aus Erfurt und fuhr die Tour für den Rennstall Illes Balears. Das ist seine Geschichte.

Die neunte Etappe führt von Gérardmer nach Mulhouse, an einem Sonntag. Im Ziel sollte Jens Voigt das Maillot Jaune überziehen, er und Tagessieger Mickael Rasmussen würden abends das Gesprächsthema sein. Den Unfall von Daniel Becke registriert kaum jemand. Dabei handelt es sich um einen unglaublichen Unfall.

Becke hat es sich an diesem Sonntag im Gruppetto gemütlich gemacht, er will Kräfte sparen. Er ist bei Balears vor allem als Zugmaschine für das Teamzeitfahren und für seine verlässlichen Helferdienste angesehen. Am zehnten Renntag würde es erstmals durch die Alpen gehen, da kann etwas gesparte Kraft nicht schaden.

Daniel Becke fühlt sich gut auf der letzten Abfahrt vor Mulhouse und hat schnell etwas Vorsprung auf das Feld, so dass er sich vor einer Kurve kurz umschaut, um sich wieder einreihen zu können. Denn im Gruppetto herrscht meist Solidarität, dieser Leidensgemeinschaft fährt niemand davon. Becke sieht also kurz zurück, er möchte auf seine Kollegen warten, doch als er seinen Blick wieder nach vorne richtet, ahnt er bereits: Er hat sich verschätzt. Denn bei der Kurve handelt es sich nicht um eine 90-Grad-Kehre, wie er dachte, sie ist viel spitzer. Diese Erkenntnis erreicht ihn, als er 60 Sachen schnell ist, und in diesem Tempo nähert er sich nun einer Felswand. Diese Felswand steht in der Kurve direkt neben der Straße. Daniel Becke fährt frontal in diese Wand, er erinnert sich: "Ich bin voll in die Felswand eingetaucht, ungebremst. Ich habe nicht einmal geschrieen, es ging so schnell. Mein Vorderrad knallt zuerst hinein, dann der Helm, die Schulter, mein Rücken, ich überschlage mich." Dann bleibt Daniel Becke auf der Straße liegen. "Ich wartete darauf, dass die Englein zu singen beginnen." Er hört aber nichts. Er lebt.

Mit 57,6 km/h in die Felswand

Der Tourarzt ist gleich zur Stelle, er möchte den blonden Deutschen, der gerade in eine Felswand gerast ist, sofort ins Krankenhaus einliefern. Ein verständliches Anliegen. Beckes Trikot ist auf dem Rücken blutverschmiert, Schulterbruch, sagt der Doktor, klare Sache. Er ruft Sanitäter herbei, doch Daniel Becke wehrt sich. Er möchte nicht ins Krankenhaus, er lebt ja. Langsam erhebt er sich und greift sich sein Rad. Es ist in der Mitte durchgebrochen und besteht nun aus zwei Teilen. "Explodiert, wie mit einem Samuraischwert zerschlagen!" Becke schaut auf seinen Tacho. Er ist bei 57,6 km/h stehen geblieben. Wegen der Felswand.

Daniel Becke möchte weiterfahren, obwohl ihm alles weh tut. Der Rücken, der Hals, sein Kopf, die Zunge, auf die er sich gebissen hat. Er überredet den Tourarzt, und der kann nichts machen. Denn Becke will weiter. Nur: Womit? Ein Wagen des französischen Teams FdJ hat angehalten, sie wollen aushelfen. Doch ihre Räder verfügen über ein anders Pedalsystem, Becke erhält schließlich vom offiziellen Materialwagen ein Velo. Es ist ihm viel zu klein, wieder passen die Pedale nicht zu seinen Schuhen. Aber er nimmt es, zehn Minuten hat er nun benommen hier herumgestanden, jetzt hat er es eilig. Er muss ins Ziel.

55 Kilometer sind es noch bis Mulhoulse, Becke fährt sie ganz allein, hinter sich nur den Besenwagen. Er hat Schmerzen, Gegenwind und ein unbequemes Rad, 20 Kilometer vor dem Ziel erhält er von Balears endlich eine vertraute Maschine. Becke schafft es ins Ziel. Mit 26 Minuten Rückstand, aber noch in der Zeit. Er weint abends auf dem Zimmer nicht, er ist "nur völlig fertig und glücklich zugleich". Geheult hat er einmal bei der Tour 2003. Damals war er auf der letzten Pyrenäenetappe abgehängt gewesen, wegen eines Defektes. 180 Kilometer fuhr er einsam gegen die Zeit, eine sagenhafte Leistung. Insofern hat er darin eine gewisse Erfahrung.

Doch die Felswand hat jetzt Spuren hinterlassen bei Daniel Becke, nicht nur auf seinem Rücken. Sondern auch in seinem Kopf. Becke hat Angst bei jeder Abfahrt, er kommt in den Kurven fast zum Stehen, er sagt: "Ich dachte jetzt, hinter jeder Kurve steht eine Felswand." An den nächsten Tagen wird er deshalb oft abhängt. Er ist "psychisch blockiert". Deshalb ist er kilometerlang allein unterwegs, vor dem Besenwagen. Auf der 15. Etappe verliert er das Gruppetto aus den Augen, 110 Kilometer ist er als Solist unterwegs. Letzter, aber er bleibt im Limit. Auf dem Abschnitt über den Aubisque sind es noch mal 50 Kilometer Alleinfahrt, Becke kann nur die Beine schmerzfrei bewegen, er hat überall Prellungen und außerdem einen Infekt. Doch er hat das alles ignoriert.

Hauptsache nach Paris gekommen

Am Sonntag ist Daniel Becke aus Erfurt in Paris eingetroffen. Im Klassement steht er an 152. Stelle, Viertletzter. Das ist ihm egal. Er lebt, und es geht ihm ganz gut, "ich kann jetzt wieder meinen Kopf bewegen und nach hinten gucken", berichtet er zufrieden. Seine Evi hat er auf dem Concorde in die Arme geschlossen, den netten Helfern von FdJ brachte er eine Flasche Schampus vorbei. Vielleicht geht es demnächst zum Psychologen, wegen des Respekts vor den Abfahrten, der ihn neuerdings zurückwirft. "Mal sehen, wie es weiter geht mit mir, ich würde mich dem jedenfalls nicht verschließen."

Daniel Becke sagt, er habe beim Zusammenprall mit der Felswand "mein ganzes Reservoir an Glück verbraucht". Eine schöne Erfindung, dieses Glück.

© SZ vom 26.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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