Public Viewing in der Kirche:Balleluja!

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In der St. Pauli Kirche ist zum Finale mehr los als an Weihnachten.

Charlotte Frank

Mit seinem Altar verhalte es sich wie mit dem deutschen Reichstag, findet Pastor Martin Paulekun: "Er muss erst verhüllt werden, damit sich die Menschen dafür interessieren". Doch war es einst das Leinen von Christo, das das öffentliche Interesse erregte, ist es heute die Leinwand vor Christus: In Paulekuns St. Pauli Kirche direkt am Hamburger Hafen spannt sich eine mächtige Großbildleinwand quer durch den Altarraum.

"Zum Endspiel, da erwarten wir so viele Leute wie sonst nicht mal an Weihnachten", sagt Paulekun und lässt zufrieden den Blick über das Arrangement in seinem Kirchenschiff schweifen. Wo sonst in Reih' und Glied hölzerne Kirchenbänke angeordnet sind, stehen jetzt kreuz und quer 30 gemütliche Sofas im 70er Jahre-Stil.

Wo sonst der Blick frei ist auf das Kreuz mit dem Sohn Gottes, blickt am Sonntag alles auf die Leinwand mit Francesco Totti und Zinédine Zidane, den "Fußballgöttern".

"Balleluja" heißt das Projekt zur Fußball-WM, bei dem der sakrale Raum der St. Pauli Kirche zur Public-Viewing-Arena für Jugendliche aus dem Viertel umfunktioniert wird - eine Gegenveranstaltung zum kommerziellen Fanfest auf dem Hamburger Heiligengeistfeld.

Vier Wochen lang liefen jedes Wochenende Spiele in der Kirche, eingebettet in ein soziales Rahmenprogramm und in rege Stadtteilfest-Atmosphäre.

Fernsehkoch Tim Mälzer war da und hat als Schirmherr des Projekts Würstchen für einen guten Zweck gegrillt, ebenso HSV-Manager Bernd Wehmeyer. Dazu gesellte sich noch St.-Pauli-Trainer Andreas Bergmann, der mit den Kindern von St. Pauli Tischfußball spielte.

Bunter Querschnitt

Sie bekommen sonst nicht so viel Aufmerksamkeit, die Kinder aus diesem legendären Viertel von Hamburg, das bis heute eines der sozial schwächsten der Stadt ist. Viele, die hier wohnen, würden andernfalls wohl auch nie eine christliche Kirche von innen sehen.

Aber in den vergangenen Wochen ging ein bunter Querschnitt sämtlicher Jugendlicher aus dem Stadtteil in die Kiezkirche und mit ihnen kamen Chips, Cola, Tröten und Fußballgesänge. Die unterschiedlichsten Nationalitäten, Religionen und Schicksale trafen aufeinander, friedlich vereint als Fangemeinde.

"Natürlich haben wir uns vorher Gedanken gemacht, ob es vertretbar ist, das Heilige und das Profane so zu mischen, wie das hier passiert", sagt Paulekun. "Aber ist das wirklich profan, wenn junge Leute so gerne zu uns kommen, wenn es ihnen hier so gut geht und sie so fair miteinander umgehen?" Und er schiebt die Frage hinterher: "Sollte das nicht das wahre Ziel der Kirche sein?"

"Das Heilige", sagt der Pastor dann, "das Heilige steckt doch im Menschen selber": Manchmal müsse man nur zweimal hinsehen, um es zu entdecken, vor allem bei den Menschen auf St. Pauli, wo so viele auf der Straße leben oder arbeiten.

Genauso sei es mit dem Fußball: Erst auf den zweiten Blick werde klar, dass er viel mehr sei als nur profaner Sport: "Fußball ist auch Lebenskultur, Hoffnung, Perspektive", findet Paulekun. "Und haben Sie sich schon mal gefragt, wem die Fußballer so oft Kusshände gen Himmel zuwerfen, wenn sie ein Tor geschossen haben?"

© SZ vom 8.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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