Porträt Zinédine Zidane:Der Künstler - ein Killer

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Keiner spielt schöner als Zinédine Zidane. Doch noch sein schönstes Spiel verfolgt einen kriegerischen Zweck.

Benjamin Henrichs

Fußball-Weltmeisterschaften ziehen Millionen Menschen in ihren Bann. In 15 reich bebilderten Bänden lässt die Süddeutsche Zeitung die Geschichte des größten Sportereignisses der Welt wieder aufleben. Die WM-Bibliothek zeichnet in Reportagen, Essays und Interviews die Turniere nach, sie beschreibt den politisch-kulturellen Geist der Epochen. Besonderes Augenmerk gilt den Stars von Andrade bis Zidane, die den Weltmeisterschaften ihr Gesicht gegeben haben. Diese Persönlichkeiten stellen wir in Porträts vor, die den Büchern entnommen sind. Folge 7: Zinédine Zidane.

Zinédine köpft zum ersten Mal im WM-Finale 1998 ein (Foto: Foto: AP)

1. Kapitel: Kopfballungeheuer

Die Weltmeisterschaft 1998 wurde mit dem Kopf entschieden. Genauer gesagt: mit zwei Köpfen, kahl der eine, halb kahl der andere. Jeder erinnert sich noch heute mit Freude an das Ritual, das jedem Spiel der französischen Mannschaft vorausging: Da nahm der hünenhafte Abwehrspieler Laurent Blanc den gänzlich haarlosen Schädel seines Torhüters Fabien Barthez in seine großen Hände und setzte einen Kuss mitten auf die Torwartglatze, liebevoll, könnerhaft. Er tat es auch vor dem Endspiel - obwohl er da wegen einer Roten Karte gesperrt war.

Der zweite magische Kopf gehörte der Nummer 10, dem Spieler Zinédine Zidane. Mit dem Männerkuss von Blanc und Barthez konnte man rechnen. Dass aber Zidane das Endspiel mit zwei Kopfballtoren frühzeitig entschied, hat die ganze Fußballwelt verblüfft, am meisten wohl den Torschützen selber. "Ich war", hat er später in einem Interview gestanden, "nie ein besonders guter Kopfballspieler. Aber die wichtigsten Tore meiner Karriere habe ich ausgerechnet mit dem Kopf erzielt." Ja, der Knabe Zidane soll sogar jedesmal ängstlich den Kopf eingezogen haben, wenn der Ball herangeflogen kam.

"Der beste Kopfballspieler", so erklärte Zidane dem Interviewer, "das war Hrubesch. Kennen Sie Hrubesch?" Das ist für den deutschen Zuschauer ein besonderer Moment. Vielleicht war Hrubesch, unser Horst Hrubesch vom Hamburger SV, mit dem Kopf ja tatsächlich der beste, der schrecklichste von allen.

Man nannte ihn ja nicht ohne Grund das "Kopfballungeheuer". Aber, das ist eine kuriose Pointe der Fußballgeschichte: Seit dem WM-Finale 1998 gehört Zidane, ausgerechnet Zidane, die ehemalige Kopfballjungfer, zu den berühmtesten Kopfballspielern der Welt. Eine beinahe märchenhafte Wendung der Dinge - und weiß Gott nicht die einzige in seinem Leben.

2. Kapitel: Im Fegefeuer

Beinahe wäre die Geschichte dieser Weltmeisterschaft ganz anders verlaufen, und Zidane wäre nicht als ihr edelster Held, sondern als ihr größter Versager in Erinnerung geblieben. Schon im zweiten Spiel der Vorrunde, gegen Saudi-Arabien, flog er vom Platz, es war ein höchst seltsames, lächerlich unnötiges Foul, fast an der Seitenlinie, Frankreich führte schon lässig mit zwei zu null. Als der Übeltäter apathisch vom Platz ging, schaute sein Trainer, Aimé Jacquet, demonstrativ an ihm vorbei.

Im Achtelfinale, gegen Paraguay, saß Zidane gesperrt auf der Bank. Und da hätte er vollends zur Hauptfigur eines Alptraums werden können. Denn die Franzosen, ohne Zidane, fanden absolut keinen Weg durch das dornige Abwehrdickicht der Südamerikaner. Das böseste Ende drohte: ein Ausscheiden ohne Niederlage, im Elfmeterschießen. Und hernach hätte Frankreich nicht lange gebraucht, um den Hauptschuldigen zu finden: Zidane natürlich, der durch seine dumme Untat Frankreich um seinen besten, seinen einzig wahrhaft genialen Stürmer gebracht hatte. Und man hätte dann bestimmt auch wieder die alten Geschichten ausgegraben: vom legendären Jähzorn, den unerwarteten Wutausbrüchen, mit denen schon Zidane das Kind, das schüchterne, stille Kind, seine Mitmenschen immer wieder erschreckt hatte.

Bevor sich Zidane also am Endspieltag in den Fußballhimmel köpfte, musste er Hölle und Fegefeuer überstehen, auch das ist eine gute Geschichte. Vor allem natürlich, weil sie für unseren Helden gut ausgegangen ist. Blanc schoss in der Verlängerung gegen Paraguay das Golden Goal. Wer sonst als er? Blanc, der Küsser.

3. Kapitel: Endspiel

Nicht Zinédine Zidane war dazu ausersehen, der unsterbliche Held dieses Finales zu werden, sondern ein anderer, damals noch Berühmterer: Ronaldo, der Brasilianer. Aber der war, das sah man schon in den ersten Minuten des Spiels, ausgerechnet an diesem Tag rätselhaft müde und malade, und die genauen Gründe hierfür weiß man bis heute nicht.

Zidane aber, mit dem ganzen Feuer des Begnadigten, der Verdammnis Entkommenen, startete schon in der zweiten Minute sein erstes großes Solo - mit einer fast wütenden Energie. Die Botschaft des Auftritts war unmissverständlich: Das heute, das ist mein Spiel! Und in den nächsten Minuten wird man Zidane an allen Schauplätzen sehen.

Es sind nicht allein die furiosen Einzelaktionen, die staunen machen, sondern fast mehr noch ist es Zidanes schier geisterhafte Allgegenwart. Es steht noch null zu null, aber schon da scheint der Kampf entschieden zu sein. Die Brasilianer spielen zwar nicht schlecht oder gar plump, aber es fehlt ihnen heute gänzlich dieser kindliche, den Gegner demoralisierende Übermut. Eine seltsame Zaghaftigkeit, ja Beklommenheit hemmt ihr Spiel. Das mag auch mit dem Schrecken darüber zusammenhängen, dass der größte Künstler (und der größte Kämpfer sowieso) bei der anderen Mannschaft spielt.

In der Vorrunde wurde Zizou vom Platz gestellt (Foto: Foto: dpa)

4. Kapitel: Der Vollstrecker

Jetzt kommen, kurz hintereinander, diese beiden Kopfballtore. Ecke Petit von rechts, Ecke Djorkaeff von links. Zweimal Zidane, zweimal der Kopf. Sieht man die beiden Szenen heute im Fernsehen, wirken sie noch immer einigermaßen rätselhaft. Man hat den seltsamen Eindruck, dass alle, Mitspieler wie Gegner, nur des Meisters ehrfürchtige Zuschauer sind. Alle scheinen stille zu stehen, zu erstarren, keiner bedrängt den heranstürmenden Zidane. Man sieht keinen brasilianischen Widerstand gegen den Torschützen und seine Tore, nur stille Ohnmacht.

Und Zidane selber? Er scheint bei beiden Kopfbällen nicht der am glücklichsten Postierte zu sein, sondern der Entschlossenste. Fast könnte man meinen, dass der Ball sich jenen Spieler sucht, der ihn am leidenschaftlichsten haben will, aber das ist jetzt natürlich romantischer Quatsch, Fußballhokuspokus.

Kurz nach dem ersten Tor sieht man Zindédine Zidane kurz mit dem Ball tanzen, und das ist (selten bei ihm!) eine nichts als schöne Aktion, ohne sofort erkennbaren Nutzen. Eine pure Freudenkundgebung am Ball. Mit der man aber natürlich einen jetzt schon deprimierten Gegner noch ein Stück weiter herunterziehen kann.

Es sieht aus wie ein böser Spuk: Plötzlich ist da ein zwölfter Brasilianer auf dem Platz, der beste von allen. Leider spielt er für Frankreich.

5. Kapitel: Der Zauberer

Das Zidane-Tor, ob mit rechts oder links oder gar mit dem Kopf erzielt, ist das Gegenteil des Müller-Tors. Es ist fast immer spektakulär, ein Kunstwerk oft, manchmal ein Knalleffekt. Unser großer Gerd Müller, "kleines dickes Müller" genannt, war bekanntermaßen ein Genie des unauffälligen Tores. Mit seinem einzigen Schlager ("Da macht es bumm!") hat der Mittelstürmer aus Nördlingen das Geheimnis seines Schaffens ja sehr schön beschworen.

Bei Zidane hingegen findet man in den Archiven jede Menge Zauberstoff: Tore aus vierzig Metern und aus schwierigsten Winkeln. Volleytreffer von der Strafraumecke. Tore, im Fallen erzielt. Tore nach genialen Slalomläufen. Tore, bei denen der Schütze gleich mehrere Abwehrspieler ins Leere taumeln lässt. Lässige Tore (mit dem Außenrist am Torwart vorbei) und Tore voller Zorn und Leidenschaft, Tore wie Explosionen.

Im Februar 2001 spielte Frankreich, der Weltmeister 1998, der Europameister 2000, gegen die Deutschen. Nach einem Fehlpass von Ballack schlug der Spieler Willy Sagnol einen langen Pass nach vorn, der Spieler Zidane stoppte ihn im Laufen mit dem rechten Oberschenkel. Dann ließ er den Ball vom rechten Schenkel auf den linken Fuß heruntertropfen, dann ließ er mit einer rasanten Körpertäuschung den bedauernswerten Verteidiger Wörns ins Leere laufen.

Das waren gleich drei superbe Fußballkünststücke in etwa fünf Sekunden. Nun war vor Zidane nur noch einer, der allzeit grimmige Oliver Kahn. Der Stürmer hätte jetzt den Ball ohne viel Mühe am Torwart vorbeischieben können. Mit rechts. Aber Zidane wählte nun seinen schwächeren, den linken Fuß zur Exekution. Und drosch den Ball mit aller ihm verfügbaren Gewalt an Kahn vorbei ins Netz.

Bei diesem Tor sah man, in ungefähr zehn Sekunden, den kompletten Zidane. Die ganze Anmut seines Spiels und, im nächsten Moment, die plötzlich hervorbrechende Wut. Zidane ist ein Zauberer, ein harmloser Zauberer ist er nicht. Mit weißen Kaninchen und Friedenstauben darf man bei seinen Auftritten nicht rechnen.

6. Kapitel: Attacke!

Zidane spielt zwei Hauptrollen zugleich, er ist der Spielmacher und der Vollstrecker - das ist eine auch für den Gegner nicht leicht zu durchschauende Doppelrolle. Was wird Zidane tun, wenn er den Ball hat? Sucht er den Mitspieler, oder startet er eine Einzelaktion? In jedem Fall aber wird er jetzt nicht erst einmal lässig-kaiserlich ins Weite schauen. Hat Zidane den Ball, beschleunigt er sofort das Spiel. Hat er den Ball, scheint vom Tor ein unwiderstehlicher Sog auszugehen, der ihn gewaltsam, unaufhaltsam nach vorne zieht. Das heißt, in Zidanes Spiel verbünden sich Artistik und Zielstrebigkeit, der Künstler ist auch ein Killer. All die berühmten Zidane-Zaubereien (die Dribblings, die Übersteiger, die Pirouetten) dienen nicht der Selbstfeier des Artisten, sondern der Verschärfung des Spiels und der Düpierung des Gegners.

Zidanes Kunst zelebriert nicht den kreiselnden Stillstand, seine Kunst ist immer eine Angriffskunst. Bei Zidanes schnellen, kurzen Steilpässen kann man auch an Messerstiche denken. Bei seinen scharf angeschnittenen Freistößen und Flanken wiederum fällt einem nicht die berühmte Banane samt Bananenflanke ein, sondern eher das Krummschwert.

Dass noch das schönste Spiel des Schönspielers immer einen kriegerischen Zweck verfolgt (Tore zu schießen, den Gegner niederzuzwingen) kann man, Zidane bewundernd, niemals vergessen. "Der will ja nur spielen!", das würde bestimmt niemand von ihm sagen. Der will immer gewinnen! Hinter der oft rhapsodisch besungenen Eleganz und Noblesse seines Spiels verbirgt sich also ein Akteur, der nicht verlieren will, der das Verlieren kaum ertragen kann.

Von den drei Angriffswaffen des Fußballers (rechter Fuß, linker Fuß, Kopf) hat Zidane am Anfang seines Weges wohl nur die eine, den Rechtsfuß, vollkommen beherrscht, also musste er jahrelang trainieren und schuften, bis die Gegner auch seinen linken Fuß und seinen Kopf zu fürchten lernten. Jetzt, da er längst ein Meister und Weltmeister geworden ist, sieht sein Spiel wahrhaftig nicht mehr nach Schufterei aus - aber man ahnt doch, wie viel zähe Arbeit dieser unbegreiflichen Leichtigkeit voranging.

7. Kapitel: Der Mönch

Alle Zidane-Geschichten scheinen erzählt zu sein, tausend Mal und ein Mal mehr. Von seiner kargen Kindheit am Rande von Marseille. Von seinen guten algerischen Eltern und seinen vielen braven Geschwistern. Von der bösen Zeit im Fußballinternat, dem Heimweh, der Stille und der plötzlich wiederkehrenden Wut. Von Zidanes Entdeckung und schneller Karriere, über Cannes und Bordeaux nach Turin und Madrid. Von seinem schier märchenhaften Aufstieg schließlich: Wie aus dem Araberjungen der Held, ja der König von Frankreich wurde, der König Zizou. In etwa jeder zehnten der tausend Zidane-Geschichten liest man das Wort "Mönch". Tatsächlich ist Zidane so etwas wie der Antipopstar des Weltfußballs, nichts scheint ihn mit Kollegen wie dem künstlichen Beckham oder dem geölten Ballack zu verbinden.

Und es ist auch gar nichts Kindisch-Egomanes in seinen Auftritten, in seinen Interviews, nichts vom Gegockele der Matthäusse und Maradonas. Also darf man ihn getrost einen Mönch nennen, sollte aber nicht vergessen, dass zum Wesen des wahren Mönches beides gehört: die Askese, aber auch der glühende, manchmal sogar fiebrige Eifer.

Nein, noch sind nicht alle Zidane-Geschichten erzählt. Eine zum Beispiel könnte am 9. Juli des Jahres 2006 spielen, im Olympiastadion von Berlin. Dort spielen, im Finale der Weltmeisterschaft, wieder einmal die Deutschen und die Franzosen gegeneinander. Und wieder unterläuft Ballack ein Fehlpass, und wieder kommt der Ball zu Sagnol, und wieder schlägt Sagnol steil nach vorn zu Zidane. Rechter Schenkel, linker Fuß, Finte, und wieder läuft ein deutscher Abwehrrecke ins Leere - ist es Mertesacker, ist es Huth, oder ist es doch wieder der alte Wörns? Wie auch immer: Jetzt hat Zinédine Zidane nur noch einen einzigen Deutschen vor sich, und wenn wir es richtig sehen, ist es Kahn, der Titan.

Bevor aber Zizou nun schießt und alle deutschen Träume vernichtet, pfeifen wir das Spiel schnell ab!

Teil 8 dieser Serie der WM-Stars (Peter Burghardt über Mario Kempes 1978) erscheint am 11. März 2006. Bisher wurden vorgestellt: Ronaldo 2002 (am 26.11.05), Franz Beckenbauer 1974 (10.12.05), Fritz Walter 1954 (24.12.05), Lothar Matthäus (7.1.06), Eusebio 1966 (28.1.06), Pelé 1970 (11.2.06).

Weitere Erscheinungstermine der Bücher aus der WM-Bibliothek der SZ: 10. März: Argentinien 1978 und Mexiko 1986; 6. April: Schweden 1958 und Spanien 1982; 5. Mai: Chile 1962, USA 1994 und Sammelband 1930-1950. Unmittelbar nach der WM im Juli erscheint Deutschland 2006.

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