Porträt:Endstation Circus Maximus

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Italien legt sich Trainer Marcello Lippi zu Füßen, der inmitten des Manipulationsskandals die erfolgreiche Weltmeister-Mannschaft geformt hat.

Birgit Schönau

Der Kapitän hat mit dem Pokal geschlafen, Fabio Cannavaro nahm den Worldcup einfach mit ins Bett. "Andere lagen da bequemer", spöttelte Marcello Lippi, am Tag nach dem Triumph von Berlin schon wieder frisch, während das Weltmeister-Volk zu Hause sich nach der kurzen Nacht müde zur Arbeit quälte.

Italiens Trainer Marcello Lippi mit dem Pokal (Foto: Foto: dpa)

Lippi hatte am Montag aber auch volles Programm: Abflug nach Rom zum Militärflughafen Pratica di Mare, um an den beiden Zivilflughäfen nicht den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Dann Empfang im Palazzo Chigi durch Ministerpräsident Romano Prodi, am Abend Jubelfahrt im offenen Bus mit Endstation Circus Maximus.

Dort wartete eine Million Menschen auf den Trainer, der am liebsten allein Fußball guckt und zum Jubeln noch nie auf die Straße gegangen ist, "denn das Match an sich vermittelt mir so viele Emotionen, dass ich nachher keine anderen mehr suche".

Im Berliner Olympiastadion hatte er sich nach 130 Minuten mit dem vorgeschriebenen Kaugummi-Ersatz endlich seine heißgeliebte Zigarre angezündet, um sie dann bei der Siegerehrung so ungeschickt wie verlegen zu verstecken. Jetzt liegt diesem Mann ein ganzes Land zu Füßen, und dieses eine Mal musste Marcello Lippi sich vom Spektakel vereinnahmen lassen. Wider Willen, ist es doch das Einzige, das er am Fußball mit Inbrunst hasst.

Im Erfolg bescheiden

Ach, sagt Lippi, man solle da bitteschön nicht zu viel hineininterpretieren. Dass er für diese oder jene Sache gewonnen habe und der WM-Titel jetzt das eine oder andere repräsentiere. "Ich wollte nur zeigen, von welcher Qualität der italienische Fußball ist." Derweil hatten sie sich zu Hause schon die Finger wundgeschrieben über die menschlichen Qualitäten dieses sperrigen, aufbrausenden, zum geschmeidigen Sympathieträger völlig ungeeigneten Mannes.

Lippis Humanität, heißt es übereinstimmend in den Zeitungen, habe die Mannschaft zum Titel getragen, erst an zweiter Stelle sei der Sachverstand gekommen, seine geniale Art, ein Match zu lesen und zu reagieren. Aber in derart schwierigen Zeiten so ein Team zu formen, das mache ihm keiner nach.

Irgendwie kommt einem das bekannt vor - in Deutschland analysieren sie auch nicht anders, dabei sind der Beachboy Klinsmann und der Seewolf Lippi sich ungefähr so ähnlich wie Santa Monica und Viareggio.

Lippis Spieler reden vielleicht deshalb erst gar nicht von fröhlichem Patriotismus, sondern sagen klar: "Ohne den Skandal wären wir nicht Weltmeister geworden." Also sprach Gennaro Gattuso, der sich übrigens auch in der Nacht des Triumphes im Spiegel betrachtete und laut ausrief: "Madonna, bin ich hässlich!"

Ja, eine Mannschaft hat Lippi geschaffen, eine Mannschaft fast ohne Star, wenn man mal von Fabio Grosso absieht, dem vormaligen Niemand von der US Palermo, der während des Turniers zum Weltklassekicker avancierte wie weiland der Sizilianer Toto Schillaci. Lippis Vorzeigemann war nicht die Nummer 10. Der entkräftete und entzauberte Francesco Totti hat Monate vor seinem 30. Geburtstag bereits seinen Abschied von der Nationalelf verkündet.

Überragender Pirlo, glänzender Buffon

Er spielte im Schatten von Andrea Pirlo, dem überhaupt nicht populären, wenig attraktiven Spielmacher des AC Mailand, und von Kapitän Fabio Cannavaro, dem perfekten Abwehrdirigenten mit dem Körper einer antiken Skulptur. Auch Torwart Gigi Buffon glänzte als einer der besten Spieler des Turniers - bis zum Finale hatte er nur das Eigentor von Cristian Zaccardo kassiert, aber keinen Treffer einer gegnerischen Mannschaft.

Erst Zidanes Elfmeter im Endspiel bezwang ihn, und dass später dem Franzosen und nicht einem der Italiener der Goldene Ball verliehen wurde, zeigt, dass der Sportjournalismus vom verklärenden Mythos lebt und nicht von vorurteilsfreiem Blick und sachlicher Analyse.

In Deutschland spielten die Italiener auch gegen eine weitgehend ignorante, teils offen feindselige Presse, die sich nicht die Mühe machte, ihre verkrusteten Klischees über den Haufen zu werfen. Dieser Begleitumstand der WM kam in Italien, aber auch bei den Spielern schlecht an.

Sieg einer Gastarbeiternation

Der Sieg in Berlin bedeutet - das darf man nicht vergessen - auch den Triumph einer Gastarbeiternation, die sich von den reicheren Nachbarn wieder einmal nicht gut behandelt fühlte.

Leider wurde das von vielen übersehen, die Italien nur noch als Urlaubsland wahrnehmen und schon lange nicht mehr als Heimat von immerhin 600.000 Arbeitern, die sich in Deutschland niedergelassen haben. Wo Ignoranz herrscht, kann keine Sensibilität entstehen - die Nolens-volens-Arroganz der Gastgeber hinterließ in Italien einen dicken, dunklen Flecken.

Die Weltmeister haben sehr wahrscheinlich nur für einen kurzen Sommer gespielt. Am Tag nach dem Triumph schon zeigten sich die ersten Auflösungserscheinungen. Totti wird gehen, Del Piero und vielleicht auch Zambrotta werden mit Juventus absteigen, Buffon und Cannavaro wohl ins Ausland ziehen.

"Die beiden haben besonders gelitten, deshalb freue ich mich jetzt auch speziell für sie", hatte Lippi nach der Siegerehrung gestanden, der über seine Probleme mit dem Manipulationsskandal aber nicht reden wollen.

Alle flehen: Mach weiter!

Vor der WM war der langjährige Juve-Coach auch wegen der Geschäftsbeziehungen seines Sohnes mit dem Spielvermittler Alessandro Moggi ins Zwielicht geraten; jetzt bitten alle, Staatspräsident und Regierungschef voran den Commissario Tecnico, doch bitte auf dem Posten zu bleiben.

Er wollte ursprünglich schon in der Nacht gehen. Jetzt wartet der Trainer noch den Termin mit dem Verband am Dienstagmorgen ab. "Ein Jahr Urlaub" hatte Marcello Lippi zuvor herbeigesehnt und Gerüchte, er gehe zu Manchester United, abgewiegelt: "Bin ich verrückt? Ich kann doch nicht mal Englisch." Das Finale sei das schönste Erlebnis seines Lebens gewesen, gestand er dann. Vielleicht möchte der alte Seewolf ja doch noch ein da capo.

© SZ vom 11.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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