Personalie:Und ewig jammert der Ästhet

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Rivaldo wird für seine fußballerischen Qualitäten verehrt, aber für seine Schauspielerei gescholten.

Ronald Reng

(SZ vom 25.06.2002) - Rivaldo hat schon etwas gewonnen bei dieser Weltmeisterschaft: das Recht auf Faulheit. Zwei Tage vor ihrem Halbfinalspiel am morgigen Mittwoch gegen die Türkei machte die brasilianische Nationalelf ein Trainingsspiel im WM-Stadion von Saitama, und Rivaldo stand, schaute, trabte, stand. Hinterhersprinten, als er den Ball verlor? Heute nicht. Das war offenbar in Ordnung so, Trainer Luiz Felipe Scolari war zwar ziemlich beschäftigt, mit hoch schwingenden Armen alle möglichen Anweisungen zu geben, aber Rivaldo ließ der Trainer in Ruhe. Man hat sich daran gewöhnt, dass der Weltfußballer des Jahres 1999 bei dieser WM nicht viel macht. Nur ab und zu die schönsten Dinge.

Der Mann hat einen enormen Schuss und ein ebensolches schauspielerisches Potential (Foto: N/A)

Fünf Tore hat Rivaldo bislang im Turnier geschossen, eines ästhetischer als das andere und das gegen Belgien wundervoller als alle anderen. Er balancierte den Ball mit der Brust, mit dem Oberschenkel und jagte ihn volley in den Winkel.

Eine neue Dimension des sterbenden Schwanes

Nur sein Angriffspartner Ronaldo und der Deutsche Miroslav Klose haben genauso oft getroffen; öfter niemand. Gut möglich also, dass Rivaldo sogar Torschützenkönig der WM wird - und für all die falschen Gründe in Erinnerung bleibt.

Denn öfter als jubelnd in der Luft liegt er leidend am Boden; oder pseudo-leidend. Wer ihn spielen sieht, fürchtet minütlich seinen Zusammenbruch. Weil er zum einen eindeutig unfit ist, nachdem sechs Verletzungen, meist an Knie und Knöchel, sein Spieljahr beim FC Barcelona zersetzten. Und weil er zum anderen den Akt des sterbenden Schwans beim geringsten Feindkontakt auf ein neues, unerträgliches Niveau treibt.

Im Viertelfinale gegen England schrie sein Gegenspieler Sol Campbell vor Verzweiflung - weil Rivaldo permanent theatralisch zu Boden ging, sobald er nur Campbells Atemhauch spürte. "Ein Stürmer muss schauspielern", verteidigte sich Rivaldo, "jeder in meiner Position macht dasselbe." Tatsächlich gilt es als professionell, wenn sich ein Angreifer über ein stehen gelassenes Bein fallen lässt, um einen Elfmeter zu schinden. Doch Rivaldo ist über diese Professionalität längst hinausgeschossen. Er ist nur noch peinlich.

Spektakulärste Tat dieser WM

Das Halbfinale gegen die Türkei ist eine Erinnerung an seine spektakulärste Tat dieser WM - kein Wundertor, sondern ein plumper Fall, der dem türkischen Mittelfeldspieler Hakan Ünsal im Vorrundenmatch der beiden Teams einen Platzverweis einbrachte. Ünsal hatte Rivaldo den Ball in einer Spielpause auf den Oberschenkel geschossen - Rivaldo tat, als habe Ünsal ihn im Gesicht getroffen.

"Ah! Das Spiel", sagte Rivaldo nun in Saitama mit scherzhafter Stimme: "Ich hatte es schon ganz vergessen. Die Türken sind immer noch wütend auf mich? Sie sollten glücklich sein. Denn wenn Brasilien nicht Costa Rica besiegt hätte, wären die und nicht die Türkei in die zweite Runde gekommen."

Verkanntes Genie unter Belastung

Wie immer redete er mit leiser Stimme, selbst eine harte Sprache wie Spanisch klingt bei ihm sanft, und wenn das Bild stimmt, das man sich an seinem Arbeitsplatz in Barcelona von ihm macht, ist er ein empfindsamer Mann; oft ein empfindlicher.

Wie so viele Profisportler, die in die Kategorie der Weltstars katapultiert wurden und dann beim kleinsten Absacken ihrer Leistung vehement kritisiert werden, haben solche Erfahrungen auch Rivaldo leicht paranoid gemacht. Er fühlt sich permanent unter Anklage. Kein Interview in Barcelona, in dem er nicht sagt: "Die Fans erkennen nicht an, was ich für sie tue."

Nun, in der Nationalelf, ist das Thema ein anderes, aber praktisch doch dasselbe: "Die brasilianische Presse verlangt zu viel von mir, es belastet mich."

Hauptarbeiter Ranodinho gesperrt

Dabei ist seine Sonderklasse unbestritten, das beweist er auch bei dieser WM mit den Kunsttoren, die er immer wieder einstreut. Umso schmerzhafter ist sein Leiden, das echte, nicht das geschauspielerte, während der WM-Spiele. Ihm fehlt die körperliche Stärke, sich regelmäßig im Zweikampf durchzusetzen, sein Vorsprung durch Technik ist nutzlos, wenn er die Bewegungen nicht kraftvoll und schnell genug ausführen kann.

In den bisherigen Partien übernahm Ronaldinho Gaucho die Hauptarbeit im brasilianischen Angriff, und da der 22-Jährige von Paris St. Germain eine feine Form gefunden hat, ging die Überlegung von Trainer Scolari auf, Rivaldo und den nach anderthalbjähriger Verletzungspause auch gerade erst wieder zurückgekommenen Ronaldo mitstürmen zu lassen.

Mit Standfußball ins Finale?

Das ganze brasilianische Spiel, mit unendlich langem Ballbesitz im Mittelfeld und nur sporadischen, explosiven Angriffen, scheint darauf ausgerichtet, dass die gebrechlichen Genies Rivaldo und Ronaldo nur in kurzen Etappen stürmen und drängen können. Doch gegen die Türkei fehlt Ronaldinho Gaucho, gesperrt wegen einer Roten Karte.

Ob Rivaldo und Ronaldo alleine zurechtkommen? Was für eine Sturmkombination sie beim Trainingsspiel am Montag bildeten: Rivaldo stand und trabte - und machte damit eine Sache mehr als Ronaldo. Der stand nur; sprinten hatte ihm der Arzt wegen eines Oberschenkelzwickens verboten.

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