Olympisches Dorf:Flagge zeigen in der Flauschwelt

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Der Bürgermeister lacht, die Brasilianerinnen blicken finster, und die Iraker treffen auf Amerikaner - Begegnungen, die nicht immer einfach sind. Das Olympische Dorf ist 16 Tage lang die Hauptstadt der Menschheit.

Von Holger Gertz

Bürgermeister eines olympischen Dorfes, was ist das eigentlich für ein komisches Amt? Man herrscht über eine Wohneinheit von 1,3 Quadratkilometern, ein paar Straßen, eine Menge Häuser, die aussehen wie große Schuhkartons. Das Dorf hat Platz für 16000 Athleten, Trainer, Funktionäre; es ist voll bewohnt nur während der Spiele, danach ziehen alle wieder aus, und der Bürgermeister nimmt am Ende den großen Besen und fegt durch alle Räume und hat nichts mehr zu tun.

Der Bürgermeister eines Olympisches Dorfes regiert nur 16 Tage, so lange dauern die Spiele, das ist die Hälfte der ausgesprochen kurzen Amtszeit von Papst Johannes Paul I. Er kann keine Gesetze erlassen und keine Gebietsreform einleiten und sich nicht mittags zum Gedankenaustausch mit anderen Bürgermeistern anderer Olympischer Dörfer treffen. Es gibt ja nur ihn. Er ist einsam, seine Macht ist nicht von Dauer. Also, was ist das für ein komisches Amt?

Ioannis Manos sagt: "Ach, es ist herrlich. Man hat viel zu tun, aber es ist herrlich. Sehen Sie die ganzen jungen Leute. Ist das nicht herrlich?" Wahrscheinlich haben sie ihn deswegen zum Bürgermeister gemacht, Ioannis Manos, Sportfunktionär im schwarzen Anzug, der ein Lächeln anknipsen kann, wenn ihn jemand darum bittet. Zwei Sportler aus den Philippinen wollen ein Foto mit ihm, natürlich, natürlich sagt er, nimmt den einen links in den Arm und den anderen rechts, und dann knipst er sein Lächeln an, und als der dritte Philippino den Fotoapparat nicht in Gang bringt, lächelt er einfach weiter, bestimmt eine Minute lang. Bis es klick macht.

Über allem ein Zeppelin

Ioannis Manos sagt: "Unsere Aufgabe hier im Dorf ist es, beides zu haben. Die Heiterkeit, die Ausgelassenheit auf der einen Seite, und auf der anderen: Kontrolle und Sicherheit." Er spricht etwas leiser, als er das von der Sicherheit erzählt. Weil die Spiele in Griechenland sind, und weil sich griechische Begriffe wunderbar raunen lassen, raunt er: "Die Synthese, die müssen wir hier finden, verstehen Sie? Die Synthese." Der Begriff Synthese bezeichnet in der Philosophie die Vereinigung verschiedener gegensätzlicher geistiger Elemente zu einem neuen Ganzen.

Bürgermeister Manos hat ganz gut auf den Begriff gebracht, worum es geht, in seinem Dorf, bei seinen Spielen. Vereinigen, zusammensetzen, eine Synthese schaffen. Dinge in Einklang bringen, auch wenn sie nicht zusammengehören. Heraus kommen: die Spiele. So viele gedopte Sportler - aber die Leute draußen müssen irgendwie im Glauben gelassen werden, dass die Rennen trotzdem auf der Bahn entschieden werden und nicht im Labor. 1,5 Milliarden Dollar kostet die Sicherheit bei Olympia, aber die Leute draußen müssen trotzdem im Glauben gelassen werden, dass es sich lohnt, so viel Geld auszugeben, weil es um eine größere Idee geht. Und die Sportler sollen glauben, sie lebten in einem Dorf, obwohl man es besser Hochsicherheitstrakt nennen sollte.

Das Areal, in dem die Athleten untergebracht sind, ist aufgeteilt in Planquadrate, die Cassiopeia heißen oder Pegasus. In Pegasus wohnt das deutsche Team. Alles ist gesichert mit Stacheldraht und Soldaten. Sie halten sich im Hintergrund. Überall Sicherheitsbeamte in Zivil. Walkie-Talkies fiepen. Alle zwölf Meter Kontrollkameras. In der Luft hängt der Überwachungszeppelin mit einem Sicherheitsmechanismus, der auch das Abhören von Handytelefonaten möglich macht.

Bürgermeister im Dorf, was ist das also für ein komisches Amt? Der Bürgermeister ist ein Illusionist. Er sorgt für den Rahmen. Er hält eine Ansprache an die Teilnehmer aus allen Nationen. Er ist oft in den Zeitungen und viel im Fernsehen. Immer lächelt er, wie Goofy in Disneyland. Die Woche vor den Spielen ist die Woche der Zeremonien. Im Dorf gibt es eine den Sportlern vorbehaltene Zone, in der auch die Wohnungen sind, und einen internationalen Bereich, in den auch die Journalisten dürfen, mit einem speziellen Ausweis.

In Bademänteln zur Begrüßung

Dort gibt es eine Bühne mit hundert Stuhlreihen davor. Jede Delegation wird einzeln begrüßt, von Ioannis Manos, für alle hält er die selbe Rede. "Wir heißen Sie willkommen in unserem Dorf, in Ihrem Dorf." "Wir hoffen, dass all ihre olympischen Träume sich erfüllen mögen." Dann kommt der Delegationsleiter der Mannschaft auf die Bühne, zwei Assistentinnen ziehen die Flagge hoch, und aus dem Lautsprecher knattert die Hymne. Kleinere Delegationen werden gebündelt empfangen. Einmal sitzt links im Publikum das Team der Philippinen, in der Mitte Ägypten, rechts Island, ganz vorn Bhutan. Die Philippinos haben seidene Umhänge an, die Ägypter helle Trainingsanzüge, die Isländer dunkle Anzüge, die kleine Delegation aus Bhutan kommt in längsgestreiften Bademänteln. Sie nennen die Tracht "Gho".

Der Delegationschef heißt Dhruba Kumar Chhetri, ein kleiner Mann mit einem Schnäuzer, und nach der Begrüßung sagt er, dass es schon seine vierten Spiele sind. Natürlich lebt auch er im Dorf, natürlich ist es ein schönes Dorf geworden, sagt er. Schöner als die anderen? "So schön wie die anderen." Natürlich fühlt er sich sicher, sagt er. Aber mit Sicherheit ist das ein bisschen so wie mit Geld. Man genießt beides, aber man spricht nicht drüber. Stattdessen erzählt er von seiner Tracht. Die Männer in Bhutan ziehen sie an, wenn sie ausgehen. Für Frauen gibt es eine andere.

Die schwarzen Kniestrümpfe, die er dazu trägt, sind von einem amerikanischen Sportartikler, das Symbol ist aufgedruckt und spannt ein bisschen über seinen Waden. Dhruba Kumar Chhetri sagt: "Von Nike. Aber, unser Team kriegt die Strümpfe nicht gestellt. Wir kaufen alles selber."

Drüben, wo die Wohnungen der Sportler sind mit ihren Etagenbetten, kahlen Wänden und dem kalten Marmorboden, hängen die Flaggen aus den Fenstern und auch die Badehandtücher. Die Sportler, selbst die Millionäre unter ihnen, leben spartanisch wie die Amateurschützen aus Ägypten. Die Zimmer im Dorf sind auch ein Versprechen an die da draußen: Glaubt nicht an das ganze Gerede von Designerdrogen, wir stählen uns mit Hanteltraining in unserer kargen Behausung. Denkt nicht an Wachstumshormone, wie essen in der Kantine Schweinebraten mit Bratkartoffeln, das macht uns stark. Dabei gehen hier Schwimmer an den Start, deren schaufelförmig veränderte Unterkiefer kaum Platz im Bettkasten ihrer Zimmerchen finden.

Das Olympische Dorf ist eine Kleinausgabe der Spiele selbst. Die Spiele sollen ja irgendwie die Menschen zueinander bringen, das ist die Idee, aber erst im Dorf treffen sie sich richtig. Die ganze Welt in der internationalen Zone auf 40 Quadratmetern im Internetcafe, Athlet neben Athlet vor Computern sitzend. Die Ländernamen stehen hinten auf den Trainingsjacken. Bulgaria, Russia, Russia, Russia. Das Gesäß des bulgarischen Gewichthebers lappt an den Seiten über den Rand des Stuhl, die russischen Turnerinnen passen zu dritt vor einen Bildschirm.

Beobachtungen im Café

Ein sonnenverbrannter Mensch, auf seiner Trainingsjacke steht Uruguay, sieht ein bisschen aus wie Jürgen Drews und schneidet sich die Fußnägel, ein Japaner hat dauernd nackte Frauen auf dem Schirm und weiß irgendwie nicht, wie die dahin kommen. Die brasilianischen Hallen-Volleyballerinnen haben ihre Beine zur Seite hin angewinkelt, weil sie nicht unter die Tischplatte passen, und tippen Botschaften in ein E-Mail-Programm. Sie haben sehr finstere Gesichter und pressen die Lippen aufeinander, und ihre dünnen Finger hacken wie Habichtschnäbel auf die Tastatur ein. Es scheinen keine besonders freundlichen Mails zu sein, vermutlich trennen sich sämtliche brasilianischen Volleyballerinnen in dieser Stunde von ihren Freunden.

Irgendwann fängt hinten ein Pole an zu lachen, er hat auf seinem Computer ein installiertes Spiel entdeckt. Dancing Bush. Der Präsident tanzt zu Discomusik, man kann ihn schneller tanzen lassen, dann sieht er noch dämlicher aus, und bald spielen alle Dancing Bush, nur der Japaner hat immer noch große Probleme mit den Frauen, und die Brasilianerinnen haben Probleme mit ihren Männern, und irgendwann werden sie das abschicken, was sie da schreiben, und dann werden drüben in Rio oder sonstwo ein paar Typen jämmerlich zu weinen anfangen.

Das Dorf hat einen Friseursalon, aber ins Gästebuch darf man als Journalist nicht schauen, weil die Friseurmeisterin die Anweisungen von oben so verstanden hat, dass das "die Sicherheit gefährden würde". Das Dorf hat, im für Journalisten offenen Bereich, mehrere Räume, in denen Pressekonferenzen stattfinden, nicht die wichtigen mit den amerikanischen Schwimmern, sondern solche mit holländischen Hockeyspielerinnen, und einmal kommt sogar die irakische Mannschaft.

Ali Najah ist dabei, ein winziger Boxer, der viel im Ausland trainiert, in London und auch in den USA. Die amerikanischen Journalisten haben ihre Sonnenbrillen ins Haar geschoben und schnurren vor ihrer Frage den Namen ihrer Zeitung runter. New York Times. Tribune. Chrrrronicle. Der kleine Iraker lobt die Amerikaner und seinen amerikanischen Trainer und den Weltfrieden, und alles ist, wie es sein sollte im Olympischen Dorf.

Dann tritt auf: Ahmed el Samarrai, der NOK-Chef des Irak und, in dieser Funktion, Nachfolger des Saddam-Sohns Uday. Er spricht vom Chaos im Land, er will die Amerikaner jetzt nicht kritisieren, aber es ist trotzdem ein kurzer Einbruch der Realität in die Flauschwelt dieses Dorfes. Ahmed el Samarrai hat vor drei Wochen ein Attentat überlebt, als er auf dem Weg ins Nationale Olympische Komitee in Bagdad war. Sein Wagen war beschossen worden.

Fehler im Protokoll

Nach der Pressekonferenz trippeln die Iraker, in ihren neuen Trainingsanzügen mit der Palme über den Ringen, hinaus auf den Vorplatz und direkt hinein in die amerikanische Nationalhymne. Das US-Team wird gerade vom Bürgermeister begrüßt, er hat sein Sprüchlein aufgesagt, die Amerikaner kauen Kaugummi, und dann kommen die Iraker. Ein Fehler im Protokoll wahrscheinlich, gerade diese beiden Teams hier aufeinanderprallen zu lassen - und ein Glück für die Olympia-Organisatoren, dass keine Kamera in der Nähe ist, die hätte aufnehmen können, wie ein paar Iraker wegwerfende Handbewegungen und ein paar Sprüche machen, auf dem Weg am US-Team vorbei. Sonst hätte es vielleicht schon einen kleinen Skandal gegeben.

Das Olympische Dorf kann wie eine Burg sein, wie vor vier Jahren in Sydney für die französische Läuferin Marie José Perec, die sich überlegt hat, aus ihrem Fünf-Sterne-Hotel am Hafen auszuziehen, wo in der Lobby die Journalisten lauerten. Sie wollte hinauf, hinter die Sicherheitsschleusen des Dorfes, zu den anderen. Sie hat kurz überlegt, aber dann ist sie doch gleich ganz abgehauen, heim nach Paris.

Das Olympische Dorf kann ein Gefängnis sein, wie für die israelische Mannschaft 1972 in München, wo palästinensische Terroristen einfach über den Zaun klettern konnten, um zu kidnappen und zu morden. Das Gesicht des vermummten Attentäters auf dem Balkon ist das Gesicht des Olympischen Dorfes 1972, und wenn die Organisatoren und Sicherheitschefs jetzt zusammensitzen vor den Spielen, dann ist da immer dieses Gesicht. So etwas darf es nicht mehr geben.

Das Olympische Dorf ist das sicherste Dorf der Welt nicht erst seit dem 11. September 2001, sondern seit 5. September 1972. Dabei sind Details der Tragödie erst dreißig Jahre später in dem Dokumentarfilm "Ein Tag im Dezember" aufgedeckt worden. Während überall Polizeihubschrauber knatterten und im Haus in der Connollystraße die Israelis um ihr Leben flehten, sonnten sich ein paar Meter weiter die Sportler aus den anderen Teams. Einige spielten Tischtennis. Der Bürgermeister Ioannis Manos aber sagt: "Hier im Olympischen Dorf lebt eine große Familie. Hier lebt die olympische Idee."

Eigentlich ist Olympia eine große Fassade, und das Dorf ist auch so eine Fassade. Hinter dem Dorf liegen die Sporthallen, das Dedalos Training Center und das Ikaros Training Center. Ein paar Hallen, ein paar verdorrte Bäume, sonst nur Wüste, Polizeisperren. Wie ein Militärcamp an einem Ort, wo die Welt bald zu Ende ist. Die Athleten fahren mit einer blauen Buslinie, neben dem Busfahrer sitzt manchmal ein Soldat. Die Organisatoren fahren mit einer hellroten, die Medienmenschen mit einer grünen Linie. Die Militärbusse fahren überall. Hinter dem Olympischen Dorf sind die Olympischen Spiele ungeschminkt. Sicher. Ohne Charisma. Und irgendwie gespenstisch.

Wettkampf mit Kopftuch

Im Dorf sitzen Lamia Bahnasawy und May Mansour. Sie sind aus Ägypten, sie werden im Bogenschießen antreten, und May Mansour wird auch im Wettkampf ihr Kopftuch nicht abnehmen, sagt sie. Beide sind zwanzig, es sind ihre ersten Spiele, und alles gefällt ihnen sehr. Sie haben eine kleine Metall-Colaflasche an ihrer Akkreditierung und ein paar Pins. Sie sind aufgeregt, gleich werden sie begrüßt, und als ihr Team aufgerufen wird, rennen sie zu ihren Plätzen, und die kleinen Colaflaschen baumeln vor ihrem Bauch.

Nach der Begrüßung wird auf der Bühne ein Kulturprogramm gezeigt. Mehrere Turner werfen sich auf Schaumgummimatten, es soll den ewigen Kampf des Menschen gegen die Materie symbolisieren, aber Lamia und May geben da schon Interviews, einem Sender aus Kairo und einem aus Hongkong. Die Kameraleute aus Hongkong sind immer da und fragen alle, und wenn grad kein Sportler in der Nähe ist, interviewen sie sich selbst.

Synthese, hat der Bürgermeister gesagt. Darauf kommt es an. Osmose hat er auch gesagt. Alles läuft ineinander, so oder so. Früher soll es ja so gewesen sein, hat mal der deutsche Tennistrainer Klaus Hofsäss gesagt, dass man "nachts beim Spaziergang durchs Dorf überall Lustschreie hörte". Vielleicht ist das auch nur so eine Legende. Aber jetzt sind überall die Kameras, in alle Büsche linsen sie hinein, man hört abends nur das Rattern von Rotoren, irgendwo fiept was, irgendwo blinkt was. Und wenn jemand schreien würde im Olympischen Dorf, und sei es vor Lust - es käme bestimmt gleich eine Staffel Schutzmänner angerannt.

© Süddeutsche Zeitung vom 13.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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