Olympia:Note eins in Selbstdisziplin

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Bloß nicht zu früh verausgaben - bei ihrer Bronzemedaille über 15 Kilometer besiegt Biathletin Martina Glagow vor allem sich selbst.

Volker Kreisl

Der vielleicht größte Feind der Biathleten ist die Ungeduld, und die vielleicht größte Versuchung der Läuferinnen ist ein zu hohes Tempo zu Beginn.

Martina Glagow freut sich über Bronze. (Foto: Foto: AFP)

Sich zu früh zu verausgaben, ist ein Fehler, den fast alle jungen Biathleten begehen, und auch deshalb sieht man in dem großen Weltcup-Feld immer wieder unglaublich starke und freche junge Läufer, die dann für Jahre verschwinden, ehe sie sich doch noch in der Weltspitze festsetzen.

Vor allem ein 15-Kilometer-Rennen ist so ein Wettbewerb, in dem man sich die Kräfte einteilen muss.

Weil alles durcheinander geht, hatte auch die Biathletin Martina Glagow während des olympischen Auftaktrennens der Frauen kaum einen Vergleich, wie schnell sie oder wie stark die anderen waren; sie hatte sich nur vorgenommen, bloß nicht den Fehler zu begehen, der ihr schon viele Plätze gekostet hat: bloß nicht zu früh verausgaben.

Diese Erkenntnis klingt so unglaublich banal, und doch dauert es manchmal acht Jahre, bis sie nicht nur im Kopf, sondern auch in den Muskeln einer Sportlerin angekommen ist. Glagow hatte schon einige Erfolge in ihrer Laufbahn, sie wurde 2003 in Chanty-Mansiysk Weltmeisterin in der Verfolgung, zugleich sicherte sie sich den Weltcup-Gesamtsieg.

Weltmeisterschaften aber gibt es viele im Leben einer Biathletin, Olympia nur drei, vielleicht vier Mal. Im Einzel der Spiele von Turin gewann die Russin Swetlana Ischmuratowa vor ihrer Teamkollegin Olga Pylewa. Dass die 26-jährige Glagow aus Mittenwald Bronze holte, lag daran, dass sie sich endlich die Kraft eingeteilt hatte. Man könnte sagen, es war eine Bronzemedaille im Einzelrennen, aber eine eins mit Stern in Selbstdisziplin.

Alle Läuferinnen haben Respekt vor dieser Höhe und dieser Strecke, die den Teilnehmerinnen alles abverlangt. Sie müssen vor dem Schießen einen 500 Meter langen Anstieg durch dünne Bergluft hinauf, während über ihnen die Gondeln mit den Touristen nach oben fliegen.

Bloß nicht zittern

Sie können sich danach ein wenig erholen, allerdings geht es dann ungefähr 200 Meter an den Zuschauern vorbei, deren Anfeuerungen sie zu höherem Tempo verleiten. Dann stellt sich ihnen noch mal ein zehn Meter hoher Hügel in den Weg, der wieder den Puls in die Höhe treibt, ehe sie in verhältnismäßig kurzer Abfahrt den Kreislauf wieder beruhigen sollen, damit der Zeigefinger nicht zittert und die Knie gehorchen.

Es ist eine schwierige Balance zwischen zu viel Risiko einerseits und zu wenig Leistung andererseits, und wenn dann auch noch Wind aufkommt wie diesmal nach etwa einer halben Stunde Wettkampf, dann potenziert sich die Chance, alles zu verlieren.

Fast alle Favoritinnen mussten diesmal während des dritten und vierten Schießens ihre Hoffnungen begraben. Die erste war die Weltcupführende Kati Wilhelm, die sich mit einem uneinholbar erscheinenden Vorsprung zum Schießen hinlegte und drei Mal daneben schoss; Liv-Grete Poiree aus Norwegen hatte bis zum vierten Schießen null Fehler und setzte dann drei Patronen daneben.

Uschi Disl brachte sich um die letzte Hoffnung auf eine Medaille mit zwei Fehlschüssen, ebenso wie Sandrine Bailly mit einem Fehlschuss. Die Französin hatte bereits zu Beginn Probleme und insgesamt auch drei Scheiben stehen lassen. Und auch Andrea Henkel, Olympiasiegerin und Weltmeisterin auf dieser Strecke, versagten die Nerven.

Der Wind war tückisch, sagte Kati Wilhelm später, er kam erst von der linken Seite, sie hatte ihre Visierlinie verstellt, geschossen, aufgeblickt und dann erkannt, dass sich der Wind während des Anschlags schon wieder anders entschieden hatte. Jetzt kam er von rechts. "Überhaupt", sagt Wilhelm, "die Windfahne wehte nicht richtig in eine Richtung, die flatterte nur so eigenartig rum."

Irrtum ausgeschlossen

Übrig blieben drei Russinnen und eine Deutsche. Erreichbar war für Martina Glagow nur Albina Achatowa, neun Sekunden hatte sie Rückstand, als sie in die letzte Runde stampfte, und alle paar hundert Meter eine Zwischenzeit zugerufen bekam. "Erst waren es zwei Sekunden, dann wieder vier, und bei der letzten Zwischenzeit, zwei Kilometer vor dem Ziel, drei Sekunden."

Und somit wurde es Zeit, endlich die Zurückhaltung aufzugeben, und den Körper loszulassen. Vermutlich hat Achatowa auf den letzten Metern ein wenig geschwächelt, vielleicht hat sich Martina Glagow am letzten Anstieg auch rekordverdächtig gesteigert. Im Ziel jedenfalls hatte sie auf einmal stattliche 20 Sekunden Vorsprung.

Weil genügend Ordner an der Strecke stehen und auch ein blaues Band vor Irrtümern schützt, darf ausgeschlossen werden, dass sie eine Abkürzung genommen hatte. "Anfangs der Zielgeraden", sagt Glagow, "war ich so blau, dass ich Zweifel hatte, noch anzukommen."

In Salt Lake City, erzählt sie, da ist sie immer nur am Medal Plaza herumgehangen, weil "ich da ja sonst nicht so viel zu tun hatte". Martina Glagow war vor vier Jahren im Einzel Achte geworden und wurde danach nicht mehr aufgestellt, "ich hab' dann halt zugesehen, wie den anderen die Medaillen umgehängt werden", erinnert sie sich. "Jetzt aber ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen." Jeder hat eben seine eigenen Bilder, die ihn motivieren.

© SZ vom 14.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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