OGC Nizza:Riviera-Bescheidenheit

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So gut wie unter Lucien Favre, 59, war Stürmer Mario Balotelli, 27, noch nie. (Foto: imago/PanoramiC)

Mit den Altmeistern Balotelli und Sneijder versucht Nizza-Trainer Favre, doch noch die Königsklasse zu erreichen.

Von Oliver Meiler, München

Ambitionen sind legitim, mögen sie auch groß sein. Im Fußball ist es gar etwas verpönt, besonders unter Fans, wenn der Verein nicht viel größer träumt, als er in Wahrheit ist. Von wichtigen Titeln und Trophäen soll er träumen, immerzu und notfalls wider alle Vernunft.

In Nizza aber, bei "Le Gym", wie sich Olympique Gymnaste Club de Nice-Côte d'Azur kurz nennt, sind sie beim Schwärmen so dürr und realistisch, dass man sich fragen könnte, warum sie an diesem Dienstag überhaupt auflaufen. Im schmucken Stadion an der Autobahn nach Italien wird das Rückspiel in der Barrage gegen Neapel gegeben. Wer durchkommt, steht in der Gruppenphase der Champions League. Die Chance ist da, wenn auch nicht mehr feudal (Hinspiel 0:2). Doch eigentlich hatte das kleine Nizza, Dritter der letztjährigen Ligue 1, gar nie damit gerechnet, dass der Sprung in die Topelite gelingen könnte. Als der Verband um ein provisorisches Budget für die neue Spielzeit bat, wie das in Frankreich üblich ist, veranschlagte "Le Gym" für das ganze Jahr 45 Millionen Euro, davon acht Millionen Einnahmen aus internationalen Wettbewerben - und zwar aus der Europa League. Die Champions League erschien ihnen wohl wie eine Schimäre.

Vielleicht lag es auch an dieser vorauseilenden Bescheidenheit, dass Nizzas Trainer, der Schweizer Lucien Favre, für sich persönlich etwas größer träumte. Favre wäre im Sommer gerne nach Dortmund gewechselt, zur wesentlich ambitionsreicheren Borussia, die sich um ihn bemühte. Offenbar waren die beiden Parteien sich auch schon einig gewesen.

Das Salär Neymars, samt Steuern, würde Nizzas Budget übersteigen

Doch dann meldete sich der Präsident von Nizza mit einem Kommuniqué, das an Klarheit kaum zu überbieten war. "Der Klub geht auf keine Verhandlungen ein", hieß es darin, "der Trainer steht bei uns bis 2019 unter Vertrag." Geld spiele keine Rolle, nur der Sport. "Diese Entscheidung ist endgültig und unzweideutig. Dortmunds Vorstand hat das verstanden und akzeptiert, Lucien Favre natürlich auch."

Und so blieb er also. Seine Enttäuschung, trüge er denn welche in sich, zeigt Favre nicht. Er redet schon wieder wie ein reißender Fluss. Kurz nach Spielende analysiert er im Detail und ohne Schönfärberei, was gut lief und, vor allem, was nicht so gut lief. Er ist ein Tüftler, ein taktischer Grübler, ein Perfektionist. Die Zeitung Libération nennt ihn liebevoll "Professeur Tournesol" - so heißt der gescheite und etwas schusselige Professor Bienlein in der französischen Originalausgabe des Hergé-Comics "Tim und Struppi". Drei Spieltage sind nun um in der Ligue 1, zweimal verlor Nizza schon, am Wochenende gewann man wenigstens gegen Guingamp. Der Glanz des Vorjahres ist dennoch etwas oxidiert.

Über den Sommer ist vieles anders geworden im französischen Klubfußball, eine ganze Spur verrückter. Das Engagement von Neymar junior bei Paris Saint-Germain, dieser Jahrhunderttransfer von Barça für 222 Millionen Euro, hat das prekäre Gefüge der Ligue 1 vollends zerrüttet. Zur Illustration: Den 45 Millionen Euro Jahresetat von "Le Gym", dem Vorjahresdritten, stehen 560 Millionen von PSG gegenüber, dem Vorjahreszweiten. Allein das Salär Neymars, zuzüglich Steuern, würde das Budget von Nizza übersteigen. Und nun will Katar, dem PSG gehört, ja auch noch Kylian Mbappé nach Paris holen, den erst 18-jährigen, aber schon heillos überteuerten Linksaußen von Monaco - für 180 Millionen Euro. Eine solche Operation, würde sie gebilligt, gäbe den Geist des Financial Fairplays definitiv zum Spott frei. Und Frankreich Vereinsfußball, der bisher nie sonderlich aufgefallen war im internationalen Konzert, weder sportlich noch sportpolitisch, schlüpfte da unversehens in die Rolle einer unseligen Avantgarde.

"Le Gym" übrigens hat in diesem Sommer ebenfalls die teuerste Verpflichtung in seiner Klubgeschichte getätigt: Allan Saint-Maximin, Stürmer, vormals Monaco, auch erst 20 Jahre alt. Der Transfer kostete allerdings bloß zehn Millionen Euro, eine Zahl wie aus einer anderen Zeit. Favre musste dafür einige Stützen ziehen lassen.

Barcelona interessiert sich für Nizzas Seri von der Elfenbeinküste

Nun droht auch noch der Weggang der personifizierten Schaltzentrale seines Spiels: Jean-Michaël Seri, Mittelfeldspieler von der Elfenbeinküste, vor zwei Jahren für 700 000 Euro aus Portugal geholt, wird vom FC Barcelona - na klar - umgarnt. In einem Zusatzparagrafen von Seris Vertrag gab es bis vor Kurzem eine Ausstiegsklausel von 40 Millionen Euro. Doch die ist Mitte Juli abgelaufen. Nun dürfte der Verein versucht sein, eher noch etwas mehr rauszuholen, in Barcelona liegt schließlich ein Haufen Geld aus Neymars Jahrhunderttransfer. Ein bisschen hat man schon vorgebeugt für den Fall, dass Seri tatsächlich geht, und den Veteranen Wesley Sneijder verpflichtet.

Der Niederländer kam zum Nulltarif von Galatasaray Istanbul. Sneijder ist jetzt 33. Das Spiel, die Antizipation, die Passgenauigkeit - das alles stecke in Fülle in ihm drin, sagt Favre. Nur die Kondition ist noch nicht so optimal. Beim 2:0 gegen Guingamp spielte Sneijder dennoch 85 Minuten, viel länger als geplant. "Mal sehen, wie er das wegsteckt", sagte danach sein Trainer, und es hörte sich nicht so an, als sei er von einem Gelingen überzeugt.

Zwanzig Minuten lang stand der Holländer mit einem alten Bekannten aus ruhmreicheren Zeiten zusammen auf dem Platz, mit Mario Balotelli nämlich, dem unsteten, zuweilen lustlosen, aber immer irgendwie lustigen Star des Klubs. Die beiden hatten einst mit Inter Mailand die Champions League gewonnen. Ist lange her, 2010. Gegen Neapel werden sie nun beide in der Startelf an der Riviera stehen, weil andere verletzt oder gesperrt sind. Mehr aus Not also denn aus Überzeugung. Aber was soll's, budgetiert ist der Posten ohnehin nicht. Europa League reicht. Man träumt eben lieber klein.

© SZ vom 22.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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