Nürnberg:Gott

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Jochen Wagner

"Die Legende lebt ... Ein Fels in wilder Brandung / Ist unser FCN / Sein Stern, er wird für immer / Am Fußballhimmel steh'n ... Die Legende lebt" - so sang die Nordkurve im Frankenstadion selig, als in der vergangenen Saison die Wiederauferstehung vom "Glubb" gefeiert wurde. König Fußball regiert im Frankenstadion, das niemals "easy credit", höchstens Max-Morlock-Stadion heißen kann - weil hier der wahre, der frühere Rekordmeister zu Hause ist.

Das Frankenstadion in Nürnberg (Foto: Foto: ddp)

Wohnt Gott im Stadion? Zutiefst himmeln wir den Beinarbeiter an. Doch dieser Kult ist freiwillig, total irdisch, findet im Freien als selbstbestimmte Sucht statt, ohne Kirche, ohne Tempel. Das ist keine Konfession, sondern eine Lebenshaltung. Und der Messias heißt hier Hans Meyer. Fußball öffnet die Herzen. Womit?

Durch Bewegungslust, Bewegungsfreiheit, Bewegungswut: Im Leibraum des Stadions hat jede Bewegung Bedeutung. Was zwischen Nordkurve und Südkurve vibriert, ist der Ballzauber auf dem letzten Fleckchen grüner Natur, das der Kapitalismus für den Rastelli am Ball übrig gelassen hat.

In der bewusstlosen Koordination, einem Tausendfüßler gleich, haben die Laufwege der Spieler nur ein Ziel: das Tor. Instinkt und Grazie, Genie und Fleiß, Verschiebung, Kette und Dribbling gebären urplötzlich den tödlichen Pass. Fußball ist pure Präsenz, ein "Zustand, der uns weiß", so Kleist.

Hier ist Freiheit ohne Dogma möglich, Glück ohne Konsum, Kampf ohne Opfer, Technik ohne Kälte, Gefühl ohne Dummheit, Kreativität ohne Zweck, Lust ohne Schuld, Taktik ohne Kalkül, Ekstase ohne Kult, Siege und Niederlage ohne Opfer. Nicht die reine Lehre ist gefragt, sondern Handlung. Kein Wissen, nur Können. Man kann sich ausprobieren, "schwanzen", wie die "Franggn" sagen, trippeln, etwas riskieren, abspielen und draufhauen. Die Metaphysik stürzt, der Ball fliegt.

Wir sind sterblich. Doch Fußball zelebriert die unversehrte Leiblichkeit: "Ich bin nicht tot" - drei Mal hat Pelé dies nach dem WM-Titel 1970 in die Kabine geschrien. Es ist der homo ludens, der Spieler, der in der Arena am Dutzendteich feiert und gefeiert wird. Der Club ist eine Passion in Schwarzrot, wie beim Roulette - bei den Dauergebeutelten reihen sich Aufstieg und Abstieg aneinander.

Man geht hier nicht ins Stadion, sondern "zum Club", dem passionierten Gegenmodell zu den NS-Ruinen in Sichtweite. Wird der Jubel auch transnational aufbranden können, um die WM-Teams aus England, Ghana, Iran, Japan, Kroatien, Mexico, Trinidad und Tobago wie den USA? Zuletzt werden die Ersten womöglich die Letzten sein, die Schwachen triumphieren. So eint das Spiel, transnational, alle durch das begehrte Kapital. Jeder will es unter Kontrolle bringen, doch wer es haben will, muss ihn teilen: den Ballbesitz.

© Der Autor ist Theologe, Philosoph und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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