Netzers Analyse:Es war die WM der Deutschen

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Jürgen Klinsmanns Mannschaft hat eine Perspektive. Das meint auf jeden Fall Günter Netzer.

Der dritte Platz. Man sagt immer, das Spiel um den dritten Platz sei ein Spiel um die goldene Ananas. Bei den meisten Weltmeisterschaften ist das auch richtig. Da treffen zwei Mannschaften aufeinander, die verloren und eigentlich keine Lust mehr haben. Bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland war es anders. Bei der Weltmeisterschaft 2006 war vieles anders, und das macht sie einzigartig.

Günter Netzer traut den Klinsmännern in naher Zukunft viel zu - 82 Millionen sind der gleichen Meinung (Foto: Foto: dpa)

Wann hat es schon einmal so ein begeisterndes Spiel um Platz drei gegeben? Die deutsche Mannschaft trat ersatzgeschwächt an. Nein, das stimmt nicht. Sie trat mit Ersatzspielern an, aber sie war nicht geschwächt. Wunderbar. Und dann kam die 74. Minute und für Portugal wurde Luís Figo eingewechselt. Nach diesem Spiel würde Figo zurücktreten.

Ich habe keine Ahnung, warum diesem großen Spieler bei seinem Abschied nur ein später Einsatz gegönnt wurde, das erschien mir respektlos vom Trainer Felipe Scolari. Aber es war schön und warmherzig, dass die deutschen Zuschauer in Stuttgart diesen Luís Figo feierten und bejubelten.

Deutsche Fans feiern Figo

Ich habe das Spiel von Berlin aus verfolgt, und auch dort wurde der Sieg gefeiert, und auch dort wurde Luís Figo gefeiert. Das war sehr typisch für diese WM. "Die Welt zu Gast bei Freunden" - dieses schöne Motto. Hatten wir uns nicht Sorgen gemacht vorher, dass dies nur ein Werbespruch ist? Berechtigte Sorgen?

Sie wurden in diesen vier Sommerwochen hinweggefegt, hinweggefeiert von einer einmaligen Atmosphäre. Die Deutschen können also lachen, singen, tanzen, feiern und sich - siehe Luís Figo - an der Größe des Moments berauschen. Ich war, ich bin es noch, sehr glücklich, in diesem Land geboren zu sein.

Es war, unter sportlichen Aspekten, keine berauschende WM. Die Brasilianer sind erstickt an ihrer Arroganz. Die Afrikaner haben wieder einmal gezeigt, dass es im Mannschaftssport Fußball eben nicht reicht, brillante Einzelkönner zu haben.

Und dass die Italiener am Ende Weltmeister wurden, ist vor allen Dingen ein Sieg des vorsichtigen Taktierens und nicht der Spielfreude gewesen.

Ihr Sieg war am Ende überschattet vom Ausraster des großen Franzosen Zinédine Zidanes, der sich seinen Abschied vom Fußball selbst ruinierte. Es hat in diesen wunderschönen Wochen nichts gegeben, was für die Ewigkeit taugt. Schade.

Deutsches Team erst am Anfang

Oder war doch mehr? Ja, es war mehr. Es war, und das hat nichts mit Patriotismus zu tun, die WM der Deutschen. Plötzlich sind wir wieder da im Fußball. "Plötzlich", das hört sich nach Zufall an, aber das ist in diesem Fall nicht richtig. "Wir sind wieder da im Fußball", das ist das Ergebnis sehr harter und sehr zielgerichteter Arbeit. Ich gehörte zu den Skeptikern, was Klinsmanns forsche und innovative Arbeit anging. Er und sein Team haben mich eines Besseren belehrt.

Diese deutsche Mannschaft der WM 2006 steht noch am Anfang, erst am Anfang, muss man wohl sagen. Sie ist jung, sie ist unbekümmert, sie ist begeisterungsfähig, und einmal, gegen Italien im Halbfinale, war sie auch ein wenig überfordert. Hatten nicht vorher so viele gezweifelt, ob dies der richtige Weg sei, mit diesen doch überwiegend sehr unerfahrenen Spielern?

Verbeugung der Jungen vor den Alten

Am Ende hatte diese Mannschaft die Größe, sich bei verdienten Männern des Sports, bei Oliver Kahn und Jens Nowotny, zu bedanken. Ich will das nicht überhöhen, aber dass die beiden im letzten deutschen Spiel des Turniers zum Einsatz kamen, und wie sie zum Einsatz kamen, das war ein bisschen wie eine Verbeugung der Jugend vor den Vorderen. Wunderbar.

Da wächst eine Generation heran, die so ganz anders auftritt, als wir es gewohnt waren in vielen Jahren im deutschen Fußball. Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski, ach, alle, wirken nicht abgehoben, nicht abgeschottet in der künstlichen Welt des Profifußballs. Sie wirken einfach wie junge Männer. Nur dass die auch noch hervorragend Fußball spielen können.

Diese Mannschaft hat eine Perspektive. Dass Michael Ballack sich geopfert und die Defensive verstärkt hat, statt seine offensiven Qualitäten zu zeigen, ja, das ist so und es ist unspektakulär, aber es ist nicht tragisch.

Fußball-Weltmeister und ARD-Experte: Günter Netzer (Foto: Foto: dpa)

Es fehlt dieser Mannschaft gewiss noch an der ein oder anderen Persönlichkeit, an Spielern wie Ballack, die dem Team ein Gesicht geben. Aber, und da bin ich mir ganz sicher, sie werden sich herausbilden in dieser Mannschaft. Sie kann nur wachsen.

Ein Beispiel: Bastian Schweinsteiger. Der spielte am Anfang der Weltmeisterschaft glänzend, schwächelte dann, und war herausragend, als es um die vermeintliche Ananas ging.

Ich wiederhole mich gerne, es war eine grandiose WM. Stimmungsvoll, erfolgreich, fröhlich. Wir haben Abschied zu nehmen von ein paar großen Spielern, Figo, Zidane, Kahn, gewiss noch anderen. Aber es geht weiter. Es geht immer weiter. Und dass es strahlend weitergeht, das ist der große Verdienst dieser Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland.

Die Welt war zu Gast bei Freunden? Ja. Und die Freundschaften wurden vertieft. Vielleicht gibt es doch etwas, was für die Ewigkeit taugt.

Dieser Text ist dem Band 2006 der Süddeutsche Zeitung WM-Bibliothek entnommen, der an diesem Donnerstag erscheinen wird.

© SZ vom 11.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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