Nationalmannschaft:Mehr Demonstration als Sport

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Zunächst hat Löw gezögert, ob er seine Mannschaft zur Partie gegen die Niederlande in Hannover noch einmal zusammenrufen soll. Bald aber war ihm klar: "Dieses Spiel muss stattfinden."

Von Philipp Selldorf, Hannover

Sein ganzes Leben hat Joachim Löw, 55, im Fußball und mit dem Fußball verbracht. Mehr als 15 Jahre war er Profi bei Vereinen in Deutschland und der Schweiz, und noch als Spieler nahm er seine Trainertätigkeit auf, die er nun seit 2004 im Dienst des Deutschen Fußball-Bundes ausübt. Am Samstag aber, "nach dieser schrecklichen, entsetzlichen Nacht" im Stade de France in Paris, hatte Löw das Gefühl, dass der ewig rollende Ball einmal zur Ruhe kommen müsste, und dass sein Leben mit dem Spiel an eine Grenze gestoßen wäre. Wenigstens dieses eine Mal, so fand der Bundestrainer Löw, sollte das nächste Spiel nicht stattfinden. "Gibt es denn jetzt nichts Wichtigeres als den Fußball?", dachte der Bundestrainer, als er mit der Nationalmannschaft auf dem Flughafen Frankfurt landete.

Die rhetorische Frage, ob es nichts Wichtigeres als Fußball gebe, bejaht Löw zwar immer noch, als er am Montag um eins in Barsinghausen bei Hannover über das nächste Spiel redet, das nun also doch stattfinden wird. Aber die andere Frage, ob man die Testpartie gegen die Niederlande nicht lieber absagen sollte, die hat er inzwischen entschieden verneint. "Am nächsten Tag war für uns alle klar, dass dieses Spiel stattfinden soll und muss", berichtet Löw zu den Beratungen, die er am Sonntag mit den kommissarischen DFB-Präsidenten Rainer Koch und Reinhard Rauball sowie dem DFB-Teammanager Oliver Bierhoff abgehalten hatte. Eine Kontroverse zu diesem Thema war nicht nötig, obwohl die Ansichten zur Einhaltung des Terminplans tags zuvor noch auseinandergegangen waren. Die Funktionäre vertraten von Anfang an die Meinung, dass man spielen müsste, um ein Zeichen der Entschlossenheit zu setzen; den eigentlichen Akteuren aber war nicht nach Spielen zumute. "Vielen ging es so, dass sie nicht einfach weitermachen und wieder Fußballspielen wollten", berichtete Bierhoff. Mit etwas Abstand scheint sich dann aber die Besinnung eingestellt zu haben, dass dieses Länderspiel eben weniger als Spiel denn als Demonstration zu betrachten ist. Bierhoff wählte große Worte, um diese Einsicht zu beschreiben, und erstaunlicherweise wirken diese Worte kein bisschen zu groß: "Wir wissen, dass wir gefordert sind und eine gewisse Funktion haben, die wir gerne annehmen wollen. Da geht es nicht um persönliche Betroffenheit oder Befindlichkeit. Wir wollen für unsere Werte, unsere Kultur und unsere Freiheit eintreten."

Für die rund 80 Vertreter des DFB - Spieler, Trainer, Betreuer, Funktionäre - war die Nacht in der Kabine im Stade de France eine Erfahrung zwischen brutaler Realität und einem Gefühl des Unwirklichen. Einerseits gab es diejenigen, die sich um die Organisation und die sichere Abreise der Gruppe bemühten und deswegen, wie Bierhoff, ständig in Rufbereitschaft befanden (was sich schon deswegen als sinnvoll erwies, weil er plötzlich die Kanzlerin Angela Merkel in der Leitung empfing); andererseits gab es die vielen Betroffenen, die auf Matten oder Bänken ein bisschen Ruhe suchten. "Im Laufe der Nacht herrschte dann eine Atmosphäre wie auf dem Flughafen oder Bahnhof, wenn es zehn Stunden Verspätung gibt", erzählt ein Beteiligter.

Auch Löw blickte am Montag auf die Nacht in Paris zurück. Er erzählte von einer "Gefühlswelt, die völlig durcheinander war. Wir hatten keine klaren Informationen, daher war am Anfang bei vielen eine große Nervosität und Unruhe und auch eine gewisse Angst zu spüren. Wir wussten nicht genau, wie wir alles einordnen sollten." Die Unsicherheit ließ nicht nach, je mehr sich die Informationen aus der angegriffenen Stadt häuften. Die führenden Köpfe der deutschen Delegation beratschlagten: Geht man ins Hotel, um das Gepäck zu holen? Wie trifft man jetzt die richtigen Entscheidungen für die Gruppe, damit sie sicher das Land verlassen kann?

Im Nachhinein hat sich Bierhoff über sich selbst gewundert und über die Fähigkeit des Menschen, in solchen Situationen die Emotionen auszuschalten und Selbstbeherrschung zu wahren: "Man muss funktionieren, man hat die Ratio eingeschaltet", sagt er und gibt zu bedenken, "dass wir mittags bereits eine Bombendrohung in unserem Hotel hatten. Das ist den Spielern wieder eingefallen. Wir waren 80 Leute in der Kabine, aber da ist keine Unruhe aufgekommen. Diejenigen, die anpacken mussten, haben das gemacht. Da hat sich die Mannschaft als Mannschaft bewährt." Auch Löw war es ein Anliegen, ein Kompliment auszusprechen: "Für die Ruhe, die sie gezeigt haben. Es war ein Gefühl des Zusammenhaltes, in all der Unsicherheit."

Der sportliche Aspekt des Spiels gegen die Niederlande war bei der öffentlichen Lagebesprechung am Montag schließlich auch noch ein Thema. Jogi Löw stellte pflichtschuldig fest, dass beide Mannschaften sicherlich gewillt seien, eine ordentliche Leistung zu bieten - wenn sie denn schon auf dem Platz stehen müssten. Weitere Erörterungen lehnte er ab, vergeblich erkundigte sich ein niederländischer Reporter nach Löws Meinung zum Zustand des Fußballs im Nachbarland. "Nicht der richtige Zeitpunkt heute", beschied er mit durchaus tadelndem Unterton. Und den Fans, die am Dienstag ins Stadion kommen möchten, hat der Bundestrainer dringend empfohlen, auf La Ola und Partystimmung und die üblichen Schmäh-Gesänge zu verzichten: "Ich wünsche mir sehr, dass die vielzitierte sportliche Rivalität mit Holland in den Hintergrund tritt zugunsten anderer Werte und Inhalte", sagte er. An diesem Abend soll der Sport anderen und höheren Zwecken dienen, findet Löw. Aber er weiß auch, dass der Ball immer weiter rollen muss, und dass jetzt auch in dieser Hinsicht ein klares Bekenntnis gefragt ist. Löw hat es daran nicht fehlen lassen: "Ich bin mir sicher", sagte er, "dass die Europameisterschaft in Frankreich stattfinden wird."

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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