Nationalmannschaft:Lewandowski einbürgern!

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Kaiser, Könige und keine Belgier: Nach der geschafften EM-Qualifikation wird Joachim Löw die Saison nutzen, um seine Auswahl zu präzisieren. Ein Kader-Rundgang.

Von Christof Kneer

Noch hat Joachim Löw nicht persönlich Stellung genommen zu jener dramatischen Demütigung, die dem deutschen Fußball von den offiziellen Stellen der europäischen Fußballregierung gerade zugefügt worden ist. Ein sogenanntes Expertengremium, das mit Recht anonym geblieben ist, hat nach der soeben abgeschlossenen EM-Qualifikation eine sog. "Qualifikations-Topelf" nominiert, und es ist dabei, wie von der hoch integren Uefa nicht anders zu erwarten war, eine vorbildliche Elf herausgekommen, in der sich sämtliche Werte spiegeln, für die der europäische Verband steht (Transparenz, Demokratie, usw.). Uefa-Chef Michel Platini ist ja einst mit dem Vorsatz angetreten, die kleineren Verbände zu stärken (die im Gegenzug den Vorsatz fassten, ihn zu unterstützen/ unpassende Anmerkung der Redaktion), und in diesem Sinne dürfte Platini mächtig stolz sein auf die Wahl seiner Experten. Auffällig ist, dass doppelt so viele Waliser in dieser Topelf stehen (zwei) wie Deutsche (Thomas Müller), auch Isländer, Nordiren und Rumänen kommen aufs gleiche Kontingent wie der Weltmeister.

Ein Linksverteidiger-Ersatz für Jonas Hector? Den müsste Löw sich wieder schnitzen

In der Uefa-Experten-Elf hütet der Belgier Courtois das Tor, vor ihm verteidigen (v.r.n.l.) der Italiener Darmian, der Waliser Williams, der Engländer Cahill und der Rumäne Rat. Das Mittelfeld bilden (v.r.n.l.) der Isländer Sigurdsson, der Nordire Davies und der Österreicher Alaba, im Sturm spielen (v.r.n.l.) der Deutsche Müller, der Pole Lewandowski und der Waliser Bale.

Was das für Joachim Löw bedeutet? Es sollte zumindest keiner erwarten, dass er nun plötzlich Alexander Meier einlädt, den Waliser unter den Bundesligahelden. Löw wird seine eigenen Schlüsse aus der EM-Qualifikation ziehen, er wird seinen Turnierkader nach dem unbestechlichen Urteil eines transparenten, demokratisch besetzten und ausschließlich aus ihm selbst bestehenden Gremiums zusammenstellen. Einige Entscheidungen ergeben sich von selbst, für andere wird sich Löw Zeit nehmen. Wer schafft es sicher ins EM-Quartier nach Frankreich, wer muss zittern, und wer hat nur eine Chance, wenn er sich noch schnell für Nordirland einbürgern lässt? Ein Rundgang durch Löws Kader, leider ganz ohne Beteiligung eines Uefa-Expertengremiums.

TOR

Für jede Position hat Löws Mitarbeiterstab ein Anforderungsprofil erstellt, und tatsächlich erfüllt der Uefa-Favorit Courtois nahezu alle Voraussetzungen. Nur in einer Rubrik fällt er durchs Raster (Belgier). So wird Löw nichts anderes übrig bleiben, als weiterhin dem weltbesten Torwart der Welt (Manuel Neuer) zu vertrauen. Mit wahnwitziger Spannung darf man außerdem erwarten, welche Torhüter nach Frankreich mitgenommen werden, um dort nicht zu spielen. Als weltbeste Ersatztorhüter der Welt drängen sich vor allem Marc-André ter Stegen und Bernd Leno auf, die sich unabhängigen Expertengremien zufolge aber so gerne haben wie Sepp Blatter und Michel Platini (also heute; nicht früher). Löw wird entscheiden müssen, ob er sich die beiden monströs ehrgeizigen Rivalen über sechs Wochen im selben Kader zutraut; oder ob er aus Gründen der Sozialverträglichkeit einen der beiden durch eine - qualitativ kaum schwächere - Alternative ersetzt (Ron-Robert Zieler, Kevin Trapp, Ralf Fährmann, Timo Horn, Loris Karius). Sie alle zeichnen sich dadurch aus, das DFB-Anforderungsprofil zu erfüllen und keine Belgier zu sein.

ABWEHR

Seine Innenverteidigung kann Joachim Löw schon jetzt den zuständigen Uefa-Stellen melden: In der Abwehrzentrale spielen Jérome Boateng und Mats Hummels. Dazwischenkommen könnten höchstens noch Verletzungen oder Formschwächen, sagt man ja immer, wobei das gar nicht stimmt. Hummels erfüllt im Moment einen der beiden Tatbestände (verletzt ist er nicht) und gilt trotzdem als gesetzt. Hinter den beiden dürften Shkodran Mustafi und Benedikt Höwedes die Stellvertreter-Positionen einnehmen. Der zurückgetretene Per Mertesacker wird nicht mehr benötigt, es sei denn, nach einem knappen EM-Achtelfinale wäre ein Live-Interview zu führen. Mertesacker beschimpft in so einem Fall wenigstens konstruktiv den ZDF-Reporter, während Hummels dazu neigt, den eigenen Mitspielern Vorwürfe zu machen.

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(Foto: Matthias Hangst/Bongarts/Getty Images)

Max Kruse (Mitte) empfahl sich mit dem Siegtreffer gegen Georgien für die EM. Wer ist sicher dabei? Wer muss zittern? Ein Rundgang durch den Kader.

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(Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Im Tor geht kein Weg an Manuel Neuer vorbei. Die derzeitigen Reservisten ter Stegen und Leno können sich bereits auf eine EM auf der Bank einstellen.

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(Foto: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images)

In der Abwehr sind Mats Hummels und Jérôme Boateng gesetzt. Dies liegt auch daran, dass Löws Kader in der Innenverteidigung nicht besonders tief ist.

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(Foto: Matthias Hangst/Bongarts/Getty Images)

Jonas Hector, hier im Zweikampf mit Robert Lewandowski, hat sich in der EM-Qualifikation einen Stammplatz als linker Außenverteidiger erkämpft.

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(Foto: Matthias Hangst/Bongarts/Getty Images)

Im zentralen Mittelfeld ist die DFB-Elf stark besetzt. Kapitän Bastian Schweinsteiger muss mit Kroos, Khedira und Gündogan um die Plätze kämpfen.

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(Foto: Thomas Eisenhuth/dpa)

Obwohl er in Wolfsburg weiterhin seiner Form hinterherläuft, darf Linksaußen André Schürrle aufgrund Löws geheimer Treuepunkteliste wohl mit zur EM.

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(Foto: Thomas Eisenhuth/dpa)

Schafft er es noch einmal zur EM? Um seine Chancen zu erhöhen, ist Lukas Podolski nach Istanbul gewechselt. Derzeit ist er ein Wackelkandidat.

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(Foto: Peter Morrison/AP)

Mario Götze sagte kürzlich der SZ, er spiele am liebsten in der Spitze. Nach dem Rücktritt von Klose fehlen Löw ohnehin die Alternativen im Sturm.

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(Foto: Matthias Schrader/AP)

Beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft war Thomas Müller zuletzt die offensive Allzweckwaffe. In der EM-Qualifikation erzielte er neun Treffer.

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(Foto: Andrew Couldridge/Reuters)

Noch ist es für Talente wie Antonio Rüdiger, Leon Goretzka oder Kevin Volland nicht zu spät, sich für einen Platz in Löws EM-Kader zu empfehlen.

Besonders tief ist Löws Kader in der Innenverteidigung nicht, dafür ist er an der Spitze so exklusiv besetzt, dass sogar die Uefa-Topelf-Innenverteidiger Cahill/England sowie Williams/Wales um ihre Plätze bangen. Der Experte Sammer/Bayern, der dem Uefa-Gremium offenbar nicht angehört, hat Boateng als "atemberaubend" und "besten Innenverteidiger der Welt" bezeichnet, und das Topelf-Mitglied Thomas Müller hat Boateng wegen seiner langen Pässe gerade "Kaiser" genannt.

Auf den Außenpositionen käme dagegen keiner auf die Idee, historische Vergleiche anzustellen. Matthias Ginter und Manni Kaltz, Jonas Hector und Andy Brehme? Oder gar: die beiden und Philipp Lahm? Lieber nicht. Dennoch sind sie auf den Außenverteidiger-Posten klar favorisiert: Beide sind okay bis gut, wenn sie seriös ihren Job erfüllen sollen; sie sind nur dann nicht okay oder gut, wenn man von ihnen verlangt, dass sie außer Verteidiger auch noch Arjen Robben spielen sollen.

Er könne sich keinen anderen Außenverteidiger "schnitzen", hat Löw vor Jahren mal über Marcel Schmelzer gesagt, was für Aufregung in Dortmund sorgte. Heute würde er so was nicht mehr sagen, aber unabhängige Uefa-Gremien schließen nicht aus, dass er es noch denkt. So hat der von Löw geschätzte Hector als Monopolist nicht nur seinen Kader-, sondern im Grunde auch seinen Stammplatz sicher, er wird links hinten nur sehr theoretisch bedrängt von Marcel Schmelzer, Erik Durm und Dennis Aogo. Rechts hinten darf Löw dagegen sogar einen kleinen Zweikampf moderieren, wobei es kein Kampf der Giganten ist, den Matthias Ginter und Emre Can austragen. Löws ursprünglichem Favoriten für diese Rolle, Antonio Rüdiger, sagen manche zwar eine Karriere wie beim atemberaubenden Boateng vorher, aber im Moment raubt der inzwischen beim AS Rom gelandete Rüdiger noch zu häufig dem eigenen Trainer den Atem. Und Rechtsverteidiger spielt er im Klub genauso wenig wie Hoffenheims Sebastian Rudy, die Alternative der Alternative (der Alternative).

Löw wird nur so viele Außenverteidiger mitnehmen, wie er wirklich braucht, ein, zwei rechts, einen links, und dann vielleicht den Allzweckhöwedes als Ersatz für alle Fälle. Überraschungskandidaten? Einer vielleicht: Sollte Innenverteidiger Holger Badstuber demnächst wieder wettkampftauglich sein, könnte sich Löw an gute, alte Zeiten erinnern. Badstuber, den trotz seiner Vorliebe für lange Pässe bisher niemand "Kaiser" nennt, könnte übrigens - zur Not - auch Linksverteidiger spielen.

Was Löw sonst noch helfen könnte? Entweder schnitzen. Oder halt den Rumänen einbürgern.

MITTELFELD

Wer sich einen defensiven Mittelfeldspieler schnitzen will, könnte Steven Davis vom FC Southampton als Vorlage nehmen: 30 Jahre, 75 Länderspiele für Nordirland und natürlich gesetzt für die Uefa-Topelf. Löw wird dagegen mit talentierten Berufsanfängern wie Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Sami Khedira oder gar Bastian Schweinsteiger auskommen müssen, dennoch gilt der Mannschaftsteil "zentrales defensives Mittelfeld" allgemein als atemberaubend gut besetzt. Das stimmt, sofern das Profil die Eigenschaften "Passspiel" und "technische Vermögen" abfragt. Sollten allerdings Qualitäten wie "defensive Fähigkeiten bei gegnerischem Konter" gesucht werden, würde man im Zweifel vielleicht lieber bei Steven Davis landen.

SZ-Grafik (Foto: SZ)

Löws Zentrale ist mit lauter Kaisern und Königen besetzt, aber es bleibt die Frage, ob ein EM-Kader ohne dienstbare Geister auskommen kann. Als solcher böte sich Christoph Kramer an, der sehr, sehr motiviert ist, bei einem großen Turnier endlich einmal ein Finale zu erreichen, weil er das WM-Finale bekanntlich vergessen hat. Er dürfte im Kader die Bender-Planstelle abbekommen, nachdem Löw die Originale Lars und Sven geräuschlos entsorgt hat. Löw wird im kommenden halben Jahr genau beobachten, ob Schweinsteiger und Khedira nur ihre großen Namen oder auch ihre Körper mit zur EM nach Frankreich bringen können; er wird beide unter (fast) allen Umständen dabei haben wollen, aber falls doch ein Kaderplatz frei wird, könnte der Schalker Leon Goretzka zum Überraschungsgast werden. Hinter den Kulissen laufen sich noch weitere talentierte Berufsanfänger warm (Johannes Geis, Julian Weigl, Joshua Kimmich), aber sie werden noch etwas warten müssen, bis 2018, 2020 oder spätestens bis 2022, wenn sie dann im Wüstensand von Katar aufblühen.

Im offensiven Mittelfeld vertraut Löw immer Mesut Özil, obwohl der auch nicht immer seinen Körper dabei hat. Weitere Plätze in der Offensive hat Löw für Thomas Müller, Karim Bellarabi und Marco Reus reserviert, wobei Reus entfernt an einen Uefa-Topelf-Spieler erinnert (David Alaba hat keine Torchancen, schießt aber Tore; bei Reus ist es ähnlich, nur umgekehrt). Und André Schürrle spielt zurzeit zwar eher wie ein Holländer, darf aber aufgrund einer geheimen Treuepunkteliste des Bundestrainers wohl auch mit zur EM.

Welcher der zahlreichen naheliegenden oder auch weniger naheliegenden Kandidaten vielleicht noch auf einem der hinteren Kaderplätze Unterschlupf findet, wird der Rest der Bundesligasaison zeigen. Patrick Herrmann (Nachteil: Kreuzbandriss), Julian Draxler (Nachteil: spielt in Wolfsburg), Daniel Caligiuri (Nachteil: siehe Draxler) oder Schalkes geheimer Geheimfavorit Leroy Sané (Nachteil: außer Jugend keiner) könnten noch interessant werden - erst recht nach Löws jüngst gewonnener Erkenntnis, wonach seine Elf dringend mehr Flügelspieler benötigt.

Noch wen vergessen? Ach so, klar, Lukas Podolski. Aber der ist ja immer dabei.

Warum? Nächste Frage.

STURM

Gibt's jetzt einen Hauskrach beim DFB? Jedenfalls hat Löw gerade gesagt, man brauche heute keinen Hrubesch mehr, was der U21-Trainer Hrubesch bisher nicht kommentiert hat. Aber Hrubesch hat ja selber keine Mittelstürmer mehr, wie er mal einer war, außer vielleicht den Leipziger Davie Selke, dessen Spiel aber etwas zu kuranyihaft wirkt für Löws feine Elf. Löw wird Mario Götze stürmen lassen und zur Not den Allzweckmüller, Mario Gomez hingegen wird trotz zahlreicher Treuepunkte eher freundliche Worte abbekommen als einen Kaderplatz. Max Kruse und Kevin Volland dürften sich ein Rennen um einen weiteren Platz liefern, während der von Löw sorgfältig beobachtete Stuttgarter Daniel Ginczek wegen einer Halswirbelverletzung auf unbestimmte Zeit ausfällt. Und Alex Meier? Ist ein Phänomen, aber Löw steht nicht so auf Phänomene.

Die Rubrik "Kult" steht nicht im DFB-Sturmprofil. Bleiben zwei geheime Optionen, die so geheim sind, dass man sie natürlich nie in die Zeitung schreiben darf. Erstens: Falls Miroslav Klose im Mai zufällig nichts weh tut, tritt er für sechs Wochen von seinem DFB-Rücktritt zurück, bevor er endgültig aufhört. Zweitens: Robert Lewandowski. Zwar darf er nicht mehr für andere Nationen antreten, aber der DFB könnte Michel Platini eine Unterstützung bei den aktuellen Untersuchungen anbieten, unter einer Bedingung: Dass er vorher noch schnell eine Sonderregelung erlässt, wonach polnische Stürmer mit vier Silben, die erst für Dortmund und dann für Bayern gespielt haben, für Deutschland antreten dürfen.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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