Nationalmannschaft:Im Speedboot vors gegnerische Tor

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Bundestrainer Löw mahnt einen kleinen Stilwechsel an - helfen soll dabei auch Ilkay Gündogan.

Von Philipp Selldorf, London/Köln

Leon Goretzka musste nicht neidisch werden, als er die Bilder seiner Nationalmannschaftskollegen beim Speedboot-Ausflug auf der Themse in London sah. Auch mit Schalke 04 verbrachte der verletzungshalber zu Hause gebliebene Mittelfeldspieler unvergessliche Stunden: beim Indoor Skydiving in Bottrop. Auf dem obligatorischen Teamfoto sah man viele fröhliche Gesichter. Bloß Goretzka blickte am Bildrand leicht betrübt drein.

Eine Verletzung ist immer schlecht, aber für deutsche Nationalspieler kommt sie derzeit noch ein Stück ungelegener. Einerseits ist da, wie bei Goretzka, die Erkenntnis, dass man erst wieder gesund werden muss (zumal die Krankmeldung des 22-Jährigen auf eine Ermüdungserscheinung zurückgeht). Andererseits ist da aber auch das Gefühl, dass Abwesenheit vom Spielbetrieb hochgefährlich ist.

"Man kann sich nicht ausruhen und Zeit nehmen - da kommt dann einer auf der Überholspur vorbei und nimmt dir den Platz weg", wie es Jonas Hector zum Start in die WM-Saison treffend ausgedrückt hatte -, wenige Tage, bevor er die erste schwerwiegende Verletzung seiner Profikarriere erlitt, einen Riss des Syndesmosebandes. Beim torlosen Testspiel in England fand der Linksverteidiger jetzt die Wahrheit seiner Aussage bestätigt. Bis dahin durfte Hector noch glauben, dass sein Spezialistenposten, den er fast drei Jahre lang in fast jedem Länderspiel besetzt hielt, nicht bedroht wäre (der alternativ erprobte Marvin Plattenhardt war statt auf der Überhol- eher auf der Kriechspur unterwegs), doch am Freitagabend trat plötzlich ein gewisser Marcel Halstenberg in Erscheinung. In London gab der 26-jährige Leipziger ein passables Hector-Double. Seine defensiven Angelegenheiten erledigte er gewissenhaft, offensiv engagierte er sich in angemessener Häufigkeit und nicht ohne Geschick. "Er hat das ohne Nervosität gemacht und sauber hinten rausgespielt", lobte Bundestrainer Joachim Löw seinen 95. Debütanten.

Möglich, dass sich Hector, wenn er zur Rückrunde wieder gesund ist, mit Halstenberg wird messen müssen, aber er darf sich damit trösten, dass dies wenigstens ein überschaubarer Konkurrenzkampf ist. Für Goretzka ist die Lage wesentlich unübersichtlicher. In seinen Gefilden treiben sich unter anderen Toni Kroos, Sami Khedira, Sebastian Rudy und Emre Can herum, und am Freitagabend fiel in den Weiten des deutschen Mittelfeldes ein Spieler auf, der noch bis vor wenigen Wochen in den Personalspekulationen über den nächsten WM-Kader lediglich aus Gründen des Taktgefühls Erwähnung fand. Dabei versteht es kein Fußballer besser, mit großer Selbstverständlichkeit auf einen potenziellen Stammplatz zurückzukehren als Ilkay Gündogan. Lediglich 21 A-Länderspiele hat er in sechs Jahren bestritten, weil er immer wieder mit heftigen Verletzungen zu tun hatte, doch als er nun in Wembley sein mittlerweile drittes Comeback beim DFB gab, hat Löw gleich wieder gesehen, was er in all den Jahren so oft vermissen musste.

Gündogans Auftritt war - wie die sehr testspielartige Partie schlechthin - keine zwingende Offenbarung, lieferte aber den unzweifelhaften Beleg, dass seine herausragenden spielerischen Fähigkeiten auch beim jüngsten Kreuzbandriss nicht gelitten haben. Mit Mesut Özil bildete Gündogan im Zentrum ein Gelsenkirchener Duett (beide stammen aus der schönen Stadt am Emscherstrand), das man in dieser Variation wohl nicht allzu oft sehen wird. Diese Paarbildung gehört schon zu den besonders avantgardistischen Experimenten des Bundestrainers, sie zeigt aber, dass dank der Auswahl an schöpferisch versierten Spielern der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Mit Gündogan und Özil hatte Löw in London sehr hohes technisches Vermögen beieinander, aber auch eine gelegentlich störende Neigung zur Kleinkunst. Beim Austausch von Kurzpässen verloren sich die beiden des Öfteren in ihrem privaten Mikrokosmos, während der Chef sich Geradlinigkeit und Tempo wünschte. "Wir verpassen es, schnell zu spielen, das müssen wir wieder lernen. Gegen solche Gegner muss man überfallartig ausbrechen und dann durchziehen", sagte Löw.

Das war nicht nur eine Ansage an die Spielgestalter, sondern auch die Andeutung des nächsten programmatischen Stilwechsels. Nachdem Löws junge Elf bei der WM 2010 als Überfallkommando für Aufsehen gesorgt hatte, ging die Tendenz im Laufe der Jahre (auch unter dem indirekten Einfluss des Bayern-Trainers Pep Guardiola) zum Favoritenfußball mit viel Ballbesitz und Felddominanz. An dieser Orientierung wird sich grundsätzlich nicht viel ändern, aber Löw ruft seine Spielgestalter dazu auf, die neuen Möglichkeiten in der Offensive zu nutzen. Dank Timo Werner und Leroy Sané stehen jetzt rasende Angreifer zur Verfügung, die nach beschleunigtem Spiel verlangen. "Wir müssen nach Ballgewinn schneller umschalten, mit Dynamik zum Tor. Das haben wir versäumt. Es ist wichtig, dass wir das Richtung WM wieder einschleifen", forderte Löw.

Am Dienstag in Köln folgt nun der nächste Test, im Spiel gegen Frankreich wird Löw eine andere Besetzung aufbieten. Der Erkenntnisgewinn sei wichtiger als das Ergebnis, sagt der Bundestrainer, aber für Hector und Goretzka ändert das nicht viel: Zugucken zu müssen, macht so oder so keinen Spaß.

© SZ vom 13.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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