Nationalmannschaft:Frohes Fest

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„Ball abgewehrt, Ball nach vorn gespielt, Timo Werner geht in die Tiefe ...“ : Leipzigs Mittelstürmer gelingt das 1:1 gegen Frankreich. (Foto: Moritz Müller/imago)

"Bitte keine Nervosität in irgendeiner Form": Nach dem 2:2 gegen Frankreich beendet Joachim Löws Elf das Länderspieljahr ohne Niederlage. Der Bundestrainer kann sich längst seine eigene Wahrnehmung des Spiels leisten.

Von Philipp Selldorf, Köln

Unter anderem wurde Joachim Löw nach dem 2:2 gegen Frankreich gefragt, wie wichtig ihm das Ausgleichstor gewesen sei, und das war natürlich eine total überflüssige, dämliche Frage. Dieser Treffer von Lars Stindl bedeutete, dass Löws Nationalelf auch im 21. Spiel nacheinander unbesiegt geblieben ist, und dass 2017 somit als makelloses Glanzjahr in seine persönliche DFB-Geschichte eingeht. Und abgesehen davon, dass man dem Gegner den sicher geglaubten Triumph verdorben hatte, was diesem beim nächsten Wiedersehen gewiss mächtig zu denken geben wird, hatte sich in dem 2:2 auch wieder die Brillanz des Cheftrainers erwiesen: Den Vorlagengeber Mario Götze hatte er eingewechselt und den Schützen Stindl ebenfalls.

So weit die Fakten und die üblichen Interpretationsmuster, die allerdings mit der gelebten Wirklichkeit des Joachim "Jogi" L. wenig zu tun haben. Weil es Löw nämlich vorwiegend egal war, dass seine Elf in letzter Minute das Ergebnis gewendet hatte, um nicht zu sagen: Es ist ihm vollkommen wurscht. Weshalb die Frage nach seinen Empfindungen in Wahrheit gar nicht dämlich war. Tatsächlich hatte der Bundestrainer den Treffer mit größter denkbarer Lässigkeit zur Kenntnis genommen, nicht mal zum Beifall nahm er die Hände aus der Hosentasche, und für ein richtiges Lächeln reichte es erst wieder, als er nach dem Abpfiff den Kollegen Didier Deschamps sowie den französischen Angreifer Kylian Mbappé in den Arm nahm. Letzteren mit einer Herzlichkeit, als ob er den Wechsel zum FC Deutschland vorbereiten wollte.

Die Welt des Fußballs hat ihre vorgeschriebenen Rituale: Siege sind alles, Niederlagen grundsätzlich ein Drama, und wenn in der letzten Minute der Ausgleich fällt, dann muss der Trainer danach sagen, er sei "überglücklich". Löw hingegen stellte in Köln höflich fest, dass er seinen Landsleuten die Freude gönnte ("Es ist ja schön, wenn man das Jahr so beendet"), dass er aber Besseres zu tun hätte als das banale Bejubeln eines Ausgleichstores ("Ergebnis ist zweitrangig"). Der fortgeschrittene Löw erinnert zunehmend an den fortgeschrittenen FC-Bayern-Präsidenten Franz Beckenbauer. Dieser pflegte mitten im Titelkampf gegen Bayer Leverkusen Betrachtungen darüber anzustellen, dass den Leverkusenern die Meisterschaft ja viel mehr zu gönnen sei als seinen Bayern, die das doch schon oft genug erlebt hätten. Vor einem DFB-Pokalfinale mit Münchner Beteiligung bemerkte er einmal: Den Pokal zu haben oder nicht zu haben, das sei im Prinzip gleichermaßen bedeutungslos.

Der Stürmer Timo Werner ist bereits so unersetzlich wie Mats Hummels oder Toni Kroos

Das Resultat von Fußballspielen hält auch der Bundestrainer für überschätzt, "über Ergebnisse wird immer wahnsinnig lange diskutiert", merkte er jetzt verächtlich an, um festzuhalten, dass er sich daran nicht beteilige ("Ergebnisse machen mich nicht mehr nervös"). Löws transzendente Wahrnehmung des Fußballs und seiner normativen Sitten hat ihn jedoch noch nicht so weit entrücken lassen, dass ihn der WM-Titel beim Turnier in Russland nicht mehr interessieren würde. Aber es ist nicht das Gold des Pokals, das ihn treibt, es sind Erlebnisse wie am Dienstag, die ihn motivieren. Dieses Spiel hatte den autonomen Löw mit den gewöhnlichen Zuschauern quasi vereint, "es war ein Spiel, wie man es sich wünscht - auch als Trainer". Der Zweck der Zusammenkunft hatte sich in höchster Form erfüllt: "Das bringt uns wichtige Erkenntnisse", lobte der Lehrer.

Nun hatten zwar die Franzosen mit ihrer aufregenden neuen Elf die respektvollen Erwartungen der DFB-Leute eher noch übertroffen, weshalb es auch folgerichtig war, dass sie fast gewonnen hätten. Doch das hat Löw nicht überrascht, dies werde ihm, wie er versicherte, "keine einzige schlaflose Nacht" bis zum Turnierbeginn bescheren. "Warum soll ich mir irgendwie Sorgen machen?", rief er bei der Pressekonferenz in den Hörsaal, beinahe entsetzt, dass ihm das jemand unterstellen wollte. Einem Mann, der weder schlechte Ergebnisse fürchtet noch Verletzungen wichtiger Spieler ("alles schon erlebt"), den kein Gerücht und kein TV-Experte erschüttert ("blende ich aus"), den macht auch die französische Super-Offensive nicht unruhig.

"Wir sind mit Frankreich und einigen anderen Nationen auf dem höchsten Niveau", findet Joachim Löw. Und auf diese Herausforderung vorbereitet zu sein, darin besteht nun seine Erfüllung.

In der Kölner Besetzung seines Teams fanden sich Spuren des Ernst- und auch des Testfalls. Der Einsatz von Emre Can als rechter und von Marvin Plattenhardt als linker Außenverteidiger darf als Versuchsanordnung für Notsituationen angesehen werden, falls die Stammplatzinhaber Joshua Kimmich und Jonas Hector mal verhindert sein sollten. Nach den Eindrücken der Probe vom Dienstag muss man Kimmich und Hector umso mehr eine stabile Gesundheit für 2018 wünschen.

Die Vorbereitung auf den Ernstfall drückte sich vor allem bei der Formierung der Offensive aus. Spieler wie Mesut Özil, Julian Draxler und Timo Werner gehören für Löw zur allerersten Wahl, und keiner der drei hat in Köln Anlass gegeben, an dieser Bewertung zu zweifeln. Vor allem Werner hat sich mit Blick auf die gewünschte Beschleunigung des Angriffs- und Konterspiels 2017 nahezu unentbehrlich gemacht. Es gibt zwar den einzigartigen Toni Kroos, und es gibt auch den unstrittigen Abwehrchef Mats Hummels, führende Koryphäen mit garantierten Startplätzen, dennoch scheinen sie nach jetzigem Stand eher ersetzlich zu sein als der Mittelstürmer Werner. Das Tor zum 1:1 lieferte das Exempel, wie es der Trainer wieder öfter sehen will: "Ball abgewehrt, Ball nach vorn gespielt, Timo Werner geht in die Tiefe ..."

Löw dagegen geht in die "Weihnachtspause", wie er seine Ruhezeit bis zum nächsten Testspiel Ende März gegen Spanien bezeichnet. Dass der Bundestrainer einen ganz eigenen Zeithorizont hat, äußerte sich in seinen Kölner Abschiedsgrüßen. Am späten 14. November wünschte er allen "ein friedliches Fest und gute Gesundheit", verbunden mit einer Empfehlung: "Bitte keine Nervosität in irgendeiner Form." Er wird mit gutem Beispiel vorangehen.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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