Nach Sieg gegen Polen:Eine neue Dimension von Party

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Das von einem Glücksrausch geprägte 1:0 der Nationalelf gegen Polen ist das Werk einer typischen Klinsmannschaft.

Ludger Schulze

Mit dem Schlusspfiff verlor das Spiel der deutschen Mannschaft vollkommen die Ordnung. Wie durchgeknallte Computerfiguren rasten die Schwarzweißen über den Rasen, an der rechten Außenlinie kam es zu tumultuösen Rudelbildungen, selbst der distinguierte Teammanager Oliver Bierhoff schmiss sich hemmungslos schweißtriefenden Trikotträgern in die Arme, und Torwarttrainer Andreas Köpke wuchtete mit beiden Armen David Odonkor in die Höhe wie ein Teilnehmer bei den schottischen Highland Games einen Baumstamm.

Verwunderung über den raketenhaften Verlauf seiner jüngsten Lebenswochen: David Odonkor (Foto: Foto: dpa)

Zurück auf dem Boden raste Odonkor ins halblinke Mittelfeld, wo er den Kragenrand seines Shirts zwischen die Zähne klemmte und einen Moment staunend verharrte. Vermutlich hat er inmitten des Glücksrausches einen Moment innegehalten, um sich über den raketenhaften Verlauf seiner jüngsten Lebenswochen zu wundern.

Ihn umschloss eine Gewitterwolke ekstatischen Gebrülls, das von den Tribünen des Dortmunder Stadions niederbrach. Als die ermatteten Sieger sich unter allerlei Triumphgesängen und La Ola zu einem Ehrenrundgang aufgerafft hatten, stand eines fest: Eine solche Stimmung in der Arena, eine solch gewaltige Explosion der Freude in den Städten hat noch kein Länderspielsieg in der Historie des Deutschen Fußball-Bundes ausgelöst.

Das ist schon deshalb verwunderlich, weil das DFB-Geschichtsbuch durchaus bedeutungsvollere Kapitel aufweist als ein 1:0 im zweiten Vorrundenspiel einer Weltmeisterschaft gegen Polen in Verbindung mit dem so gut wie selbstverständlichen Erreichen des Achtelfinales.

Mit eisernem Willen

Doch die Menschen hierzulande sind mit dem eisernen Willen zu ihrer Heim-WM angetreten, sich eine neue Dimension von Party zu erschließen, eine vierwöchige Dauerorgie in Schwarz-rot-gold. Notfalls kann man einfach nur um des Feierns willen feiern, aber bedeutend leichter geht es mit Anlass. Den hat die Nationalmannschaft nach dem zweideutigen 4:2 im Auftaktspiel gegen Costa Rica nun eindeutig nachgeliefert.

Jetzt geht's los, ganz Fußball-Deutschland ist zu einer Mission aufgebrochen, die Weltpokal heißt.

Die ist bis Mittwochnacht gegen 22.50 Uhr nur eine blasse Hoffnung gewesen, eine Privatvision von Bundestrainer Jürgen Klinsmann, doch mit dem Last-Minute-Tor von Oliver Neuville hat sie Kraft und Kontur gewonnen.

Dieses 1:0 ist ein Sieg über alle Zweifel, vor allem die eigenen, weil er von einer außergewöhnlichen Dramaturgie inspiriert wurde. Ein 4:0, das in Anbetracht großformatiger Torchancen von Miroslav Klose (21., 74.), Lukas Podolski (45.) und eines Doppel-Lattentreffers (Klose und Ballack/90.) keinesfalls vermessen gewesen wäre, hätte bei weitem nicht die erlösende Wirkung gehabt wie dieser zahlenmäßig karge, aber um so wertvollere Lohn für eine enorme Anstrengung.

Kein verflixter Tag

Mehr als 90 Minuten lang war die Partie weitgehend einseitig in Fahrtrichtung - der keinesfalls schwachen - Polen ausgerichtet, und nicht nur Oliver Bierhoff hat zwischendrin das Gefühl beschlichen, "dies könnte einer dieser verflixten Tage sein", an denen das Runde partout nicht ins Eckige will.

An solchen Tagen verliert man leicht den Kopf, da sieht man Spieler, die mit den Fäusten auf den Rasen eintrommeln oder die Hände vors Gesicht schlagen; doch die Deutschen hatten keine Zeit für verräterische Verzweiflungsgesten, sie waren ausreichend damit beschäftigt, immer weiter an ihre Chance zu glauben und den Gegner müde zu spielen und zu laufen.

Drei entkräftete polnische Abwehrspieler bettelten bei ihrem Trainer um Auswechslung. Und dann kam dieser wunderbare Pass von Schneider auf Odonkor, und dann kam diese präzise Flanke von Odonkor auf Neuville, und dann kam ... siehe oben.

Werk einer typischen Klinsmannschaft

Wäre dieser späte Sieg eine Zeichnung, dann hätte er von einem Reißbrett stammen können, das im Hause Klinsmann in Huntington Beach/Kalifornien steht. Die Leidenschaft und der Wille, sich über die eigenen Lauf- und Körpergrenzen hinwegzusetzen, sind Charakteristika des Spielers Jürgen Klinsmann gewesen.

Dieses 1:0 ist demnach das Werk einer typischen Klinsmannschaft. Seine Handschrift und die seines Assistenten Joachim Löw sind deutlich geworden: kerniger Teamgeist, offensive Grundordnung und eine bei deutschen Mannschaften lange vermisste Fitness bis unter die Zehennägel. Klinsmann hätte sich selbst rühmen können, auch für die Einwechslungen von Odonkor, Neuville und Borowski ("Das hat mit glücklichem Händchen nichts zu tun"), die der überforderten polnischen Abwehr den Rest gaben; doch er war gut beraten, zumindest rhetorisch in die Defensive zu gehen.

Natürlich hat Klinsmann den Augenblick, da er die Erwachsenenwelt der internationalen Trainergemeinschaft betrat, als "wunderbares Erlebnis" empfunden. Aber den Erfolg reklamierte er nicht für sich, sondern widmete ihn seinen Leuten.

Beispielsweise der zuvor flatterhaften Abwehrkette, die auch dank idealer Unterstützung der selbstlosen Mittelfeldspieler nie in Verwirrung geriet. Auch Kapitän Michael Ballack, dessen Körpersprache den selbstbewussten Herrscher über diese Partie verriet, ließ sich ein wenig von seiner Offensivkraft rauben, indem er nach Kräften hinten aushalf. "Ich kann nicht einfordern, dass wir defensiv gut stehen müssen, und mich dann nur vorne rumtummeln. Die Mannschaft gewinnt dadurch an Sicherheit."

Gefordert gegen Ecuador

Der Schlüssel zum 1:0 war die Beherzigung der modernen Taktikregel, wonach alle Mannschaftsteile in enger räumlicher Nähe verteidigen, aufbauen und vor das gegnerische Tor rücken. Neben dieser bemerkenswerten Gesamtleistung aber ist besonders Philipp Lahm zu rühmen, der augenblicklich einen Aufstieg zum Weltstar vollzieht.

Lahm hat die gesamte Fußballkunst in den Genen, zwei gleichstarke Füße und bei jeder Aktion einen Plan B im Kopf. Wann hatte Deutschland zuletzt einen solch wunderbaren Spieler? Endlich einmal traf es den Richtigen, als die Fifa den "Mann des Spiels" wählte. Helden des Abends aber waren der rastlose Flankengeber Odonkor und Glücksbringer Oliver Neuville.

Um das kleine Wunder abzurunden, müssen sie am Dienstag in Berlin Ecuador besiegen, um als Gruppenerster im Achtelfinale gegen den Zweitplatzierten der Gruppe B (England, Schweden, Paraguay und Trinidad & Tobago) antreten zu dürfen. Dazu muss die Klinsmannschaft nur fortsetzen, was in Dortmund begann.

© SZ vom 16.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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