Nach dem Länderspiel:Wiederentdeckung der guten Laune

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Das 1:1 gegen Brasilien weckt Hoffnung, dass unter Jürgen Klinsmann eine neue Fußballkultur entsteht.

Von Ludger Schulze

Am 23. Juni dieses Jahres fand im Stadion José Alvalade in Lissabon ein Fußballspiel zwischen Deutschland und der B-Mannschaft der Tschechischen Republik statt. Im Rahmen der Europameisterschaft ging es um das Erreichen des Viertelfinales, um nicht weniger als alles also.

Alle da und trotzdem schießt der Brasilianer ein Tor. Ronaldinhos 1:0. (Foto: Foto: dpa)

Die erste Halbzeit nutzte das deutsche Team dazu, Gedanken zu sammeln, die Zeit verstreichen zu lassen und im Nebenprodukt einen Plan zu entwickeln, der, so Gott gewollt hätte, zum Siege hätte führen sollen. Als die Mannschaft ihre Überlegungen - gereift in Anlehnung an Franz Beckenbauers Lebensmaxime "erst schaun ma mal, dann seh' n wir schon" - mit dem Entschluss beendete, vielleicht doch noch ein Tor zu schießen, war das Spiel fast vorbei, die Chance vertan: aus, Ende, Rücktritt Völler, Heimreise.

No risk, no fun

Wer verstehen wollte, konnte daraus die Lehre ziehen, dass man ein Fußballspiel nur schwer gewinnen kann, wenn man es nicht versucht. Oder, wie der Kalifornier sagen würde: no risk, no fun. Seitdem waren bis Mittwochabend exakt 76 Tage vergangen, und inzwischen hat zufällig ein Kalifornier die Dirigentenstelle an der deutschen Fußball-Oper übernommen. Am 77. Tag muss man sich die Frage stellen, ob es vielleicht zwei Nationalmannschaften hierzulande gibt.

Eine, die am 23. Juni in Lissabon eine Demonstration von Hasenfüßigkeit und Bedenkenträgertum gab, und eine, die sich am 9. September in Berlin mit Urvertrauen in eigene Fähigkeiten präsentierte, so dass sich beinahe 73000 Menschen auf den Rängen zu einem Rückgriff auf das Liedgut vergangener Erfolgstage veranlasst sahen: "Oh, wie ist das schön..."

Der Funken der Hoffnung, den Bundestrainer Jürgen Klinsmann gezündet hat, ist übergesprungen, der Hoffnung, doch nicht außen vor bleiben zu müssen, wenn sich die stärksten Fußballspieler der Welt in 22 Monaten streiten, wer die Besten sind.

Aha-Erlebnis Nummer zwei

Mit einer Aggressivität und Spiellust, die man fast schon vergessen wähnte, erreichte dieses neue Team ein 1:1 (1:1) gegen Brasilien, derzeit zufällig das beste Team weltweit. Auch wenn, zugegeben, die von Reisestress geplagten Herren um Ronaldo, Roberto Carlos und Ronaldinho für ihre Verhältnisse verschämt auftraten wie Tanzstundenknaben, die ihr Clearasil vergessen haben.

"Natürlich hätten wir die Brasilianer gerne geschlagen. Das Wichtigste ist aber zu sehen, dass die Mannschaft beginnt zusammenzuwachsen. Sie hat heute ein Gespür dafür bekommen, wozu sie mit dieser Dynamik und Aggressivität im Stande ist. Es hat Spaß gemacht, ihr zuzusehen", bilanzierte Klinsmann.

Er und seine Kollegen Bierhoff und Löw hingegen haben mit dem zweiten Aha-Erlebnis nach dem 3:1 gegen Österreich eine Sicherheit gewonnen, dass es sehr wohl möglich ist, mit diesen Spielern einen eigenen, wagemutigen Stil, eine Handschrift unter den Initialen JK zu entwickeln.

Der zauberhafte, wundersam konstante Lahm

Die Elf hat gleich mehrere vermeintliche Gewissheiten als blanke Vorurteile widerlegt. Ad eins: Zu viel Jugend schadet nur. In Berlin wirkten mit: Andreas Hinkel, 22, Robert Huth, 20, Philipp Lahm, 20, Torschütze Kevin Kuranyi, 22, Andreas Görlitz, 22, Lukas Podolski, 19. Ad zwei: Vorsicht ist der Vater des Erfolgs.

Statt sich vorm eigenen Strafraum zu versammeln und auf Fehler des Gegners zu lauern, verlagerten die neuen Deutschen das Spiel um 20 Meter nach vorne, stürzten sich auf ballbesitzende Brasilianer wie ausgedörrte Wüstenwanderer aufs Fassbier und zwangen sie zu Fehlern der hölzernen Art. Ad drei: In Deutschland herrscht ein eklatanter Mangel an individueller Klasse.

Der stark verbesserte Hinkel und der zauberhafte, wundersam konstante Lahm bilden ein Außenverteidigerpaar, das nicht oft vorkommt in der Welt des Fußballs; auch ein Mittelfeld mit dem beeindruckend unbeeindruckten Torsten Frings, Sebastian Deisler, Michael Ballack und Bernd Schneider ist ein Gute-Laune-Produzent; im Sturm ackert Gerald Asamoah wie ein Steineklopfer im Akkord, und Kuranyi hat die Anlagen, um die große deutsche Stürmertradition aufleben zu lassen.

Ein Baustein

"Wir haben heute einen weiteren Baustein auf dem Weg zur WM 2006 gesetzt", hielt Klinsmann sachlich fest. Eigentlich ist es bei der Geschlossenheit des Teams unangebracht, über Einzelne zu reden. Stellvertretend aber seien die Namen Schneider, Deisler, Ballack erwähnt. Bernd Schneider hat nach einer EM der Mutlosigkeit wieder zu jenem Schwung gefunden, der ihn vor zwei Jahren zum brasilianischsten Spieler des WM-Finals machte.

Sebastian Deisler, der sein letztes richtiges Länderspiel über volle Länge vor drei Jahren durchgestanden hatte, brillierte mit verwirrenden Dribblings, einigen gestochenen Pässen und leitete mit der Hacke zwei, drei Ballpassagen ein, die man sonst eher von den gegnerischen Samba-Kickern kennt.

Generation anständig

Und Michael Ballack strafte den guten Günter Netzer Lügen, der ihm einmal Führungsqualität aufgrund sozialistischer Erziehung abgesprochen hatte. Wie Ballack, kämpfend, mitreißend und voll leidenschaftlicher Hingabe stellt man sich den Kapitän einer Fußballmannschaft vor. Ballack ist schon nach seinem zweiten Einsatz in neuer Würde der unumstrittene Anführer einer Gruppe, die wegen ihrer charakterlichen Beschaffenheit zu Recht unter dem Schlagwort "Generation anständig" firmiert.

"Es hat mich begeistert, wie die jungen Spieler ihre Sache gemacht haben", sagte er stolz. "Die Jungs haben eindrucksvoll bewiesen, dass sie gegen die Superstars mithalten können." Kapitän Ballack hat die Verantwortung bereits so verinnerlicht, dass man mit ein wenig Phantasie den erhobenen Zeigefinger sehen konnte, als der Münchner seine Leute staatsmännisch an vaterländische Pflichten erinnerte. Das Testspiel gegen Brasilien sei quasi selbstmotivierend gewesen, nun aber komme der graue Alltag: "Die nächsten Spiele werden wesentlich schwieriger." Das hört man fast ebenso gern, wie man gerade zugesehen hat.

© SZ vom 10.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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