Nach dem EM-Aus:In der Zeitmaschine

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Trotz des 0:2 gegen Frankreich, bei dem Bastian Schweinsteiger einen verhängnisvollen Auftritt hat, blickt das deutsche Nationalteam unbesorgt in die Zukunft.

Von Philipp Selldorf, Marseille

Sonnenbrille im Kragen des T-Shirts, Badelatschen, Schirm-Kappe und zur stattlichen Uhr ein schwarz-rot-goldenes Armband, so erschien Lukas Podolski im Stade Velodrome. Podolski hatte sich in Marseille als Tourist verkleidet, aber das hat er nicht nach dem 0:2 verlorenen Spiel getan, das die Dienstreise der deutschen Mannschaft bei dieser EM beendete. Er hatte schon VOR dem Spiel wie ein Urlauber ausgesehen.

Was wird jetzt aus Lukas Podolski? Der 30 Jahre alte Nationalspieler musste auf dem Weg zum Mannschaftsbus viele Meter durch den Stadionkeller zurücklegen, bis ihn endlich ein Reporter aufhielt und ihn um die Auskunft bat, ob er auch beim nächsten Turnier der Nationalmannschaft angehören oder lieber zurücktreten möchte. Bleiben oder gehen? Diese ewige Lebensfrage wurde nach der Partie vor allem an Podolskis langjährigen Schicksalsgenossen Bastian Schweinsteiger gerichtet. Dutzende Zuhörer drängelten sich auf dreieinhalb Quadratmetern und warteten auf eine Antwort, während im Hintergrund Podolski die Szene passierte, eine Plastiktüte in der Hand, den Rollkoffer schiebend. "Macht's gut, Männer", rief er jovial in die Runde wie der Kollege, der sich in den Feierabend verabschiedet.

Schweinsteiger kämpfte derweil mit den Worten. Statt eines Satzes gab er ein paar unklare Laute von sich. Erst ein Aaaah und dann ein "es ist, äh . . .", bis er nach ein paar Momenten der Besinnung sagte, er habe über dieses Thema "nicht nachgedacht: Ich habe versucht, die ganze Energie ins Turnier zu legen".

In Schweinsteiger haben sich wieder alle getäuscht. Die meisten hatten erwartet, er werde erst gar nicht mitreisen nach Frankreich, weil er über den Status des Rekonvaleszenten nicht hinauskomme. Von Übergewicht wurde geraunt, fünf, sechs Kilo mindestens, Fotos tauchten auf, die wie Beweismittel des Geheimdienstes präsentiert wurden. Als Schweinsteiger auf der Nominierungsliste erschien, lauteten die Prophezeiungen, dass er eine Art Kabinen-Kapitän sein werde, ein Mann für die Moral und nicht fürs Spielfeld. Als er während der Vorrunde zwei Kurzeinsätze bestritt, war man sich einig, dass darin seine Bestimmung liegen würde.

Einsam vor den Siegern: Bastian Schweinsteiger nach der Niederlage gegen Frankreich. Das EM-Halbfinale war womöglich das letzte Länderspiel für den 31-Jährigen. (Foto: imago)

Und nun, beim Halbfinale in Marseille gegen Gastgeber Frankreich, beim mutmaßlich vorweggenommenen Endspiel, war Schweinsteiger nicht nur der Kapitän beim Wimpeltausch und der kantige Stratege, der mit seinem Stellungsgefühl und seiner Routine das Zentrum und das Aufbauspiel sicherte. Er war auch derjenige, der dem Gang der Dinge den entscheidenden Anstoß gab - leider, aus deutscher Sicht. Schweinsteiger setzte einen verhängnisvollen Schwerpunkt, als er zum Kopfballduell mit Patrice Evra herangeflogen kam, den rechten Arm nach vorn reckend, als wollte er das emblematische Supermann-Motiv imitieren. "Meine Hand hat da nichts zu suchen, das weiß ich auch. Aber ich wollte nicht mit Absicht ein Handspiel machen", sagte er später.

Der fällige Elfmeter von Antoine Griezmann zum 1:0 gab dem Spiel eine Wendung. Bis dahin hatten die Gäste die Partie sicher in Besitz gehabt - einerseits mit Erlaubnis der Gastgeber, andererseits mit unverschämtem Selbstverständnis. Während der folgenden Pause war der Bundestrainer mehr damit beschäftigt, seine aufgeregten Leute zu beruhigen, als sie mit Ratschlägen zu versorgen. Er ahnte auch schon das Unheil, das kommen würde. "Nach dem Elfmeter war es schwer, weil Frankreich gute Konterspieler hat", sagte Joachim Löw später, als ihm zum Trost nur noch der Konjunktiv blieb: "Ich denke, wenn wir in Führung gehen, haben wir das Spiel so dermaßen im Griff, dann hätte Frankreich fast keine Möglichkeiten mehr bekommen." Löw ist in den Stadien von Astana/Kasachstan bis Warschau/Polen immer als besonders höflicher Gast und notfalls auch anständiger Verlierer aufgefallen, doch diesmal setzte er ein süßsaures und durchaus bitterböses Lächeln auf, als er ein für allemal erklärte: "Ich finde, die Franzosen haben eine gute Mannschaft. Aber wir waren heute besser."

Ein Halbfinale zu verlieren ist schlimm, ein überlegen geführtes Halbfinale zu verlieren ist viel, viel schlimmer. Tatsächlich fühlte man sich beim Anblick des Geschehens vorübergehend, und nicht nur in der ersten Halbzeit, mit der Zeitmaschine in die Vorrunde versetzt. Es war, als ob wieder der Weltmeister gegen Nordirland, die Ukraine oder, in der fortgesetzten Vorrunde, die Slowakei spielte. "Es ist leichter zu verlieren, wenn man weiß: Heute war der Gegner besser. Aber so war es nicht", stellte Mats Hummels fest. Vor vier Jahren hatte Deutschland gegen Italien ebenfalls ein EM-Halbfinale verloren, damals flogen Spieler und Trainer in dem Gefühl nach Hause, dass sie bekommen hatten, was sie verdienten. Diesmal empfanden sie die Niederlage als ungerechtfertigt. War Deutschland eigentlich das bessere Team, Herr Gomez? "Das eigentlich können Sie streichen", erwiderte Mario Gomez, der Klosterfrau Melissengeist im deutschen Kader - nie war er so wertvoll wie heute.

Es war ja kein Understatement, als Hummels auf die Frage, wer denn mehr gefehlt habe - er oder Gomez - antwortete: "Mario natürlich. Es hat einer gefehlt, der den Ball reinschießt." Toni Kroos' Kompliment, dieses Spiel sei das beste deutsche Turnierspiel gewesen, fasste die vielen gelungenen Komponenten zusammen: Aufgabenteilung, Organisation, Hilfsbereitschaft, Hingabe, Benedikt Höwedes' schon jetzt weltberühmte Grätsche gegen Giroud, Mesut Özils Überall-Präsenz und, selbstredend, seine eigene hart erstrittene Herrschaft über das Mittelfeld. Was Kroos aber nicht gemeint haben kann: Dass die deutsche Offensive den französische Strafraum effektiv besetzt hielt. Gegen tief stehende Gegner - etwa die Nordiren von Paris oder die Franzosen von Marseille - brauche man "richtige Mittelstürmer, die etwas ausstrahlen", sagte Hummels. Auch in künftigen Jahren.

An so einem bedeutungsvollen Abend will dann immer jeder wissen, wie es weitergehen soll mit dieser schwer geschlagenen Nationalmannschaft. Worauf diesmal die meisten Antworten leicht fallen. Im Tor wird auch künftig Manuel Neuer stehen, "der kann spielen, bis er 55 ist", glaubt Hummels, der seinerseits zwar die Teilnahme an der EM 2024 ausschließt ("denke nicht, dass ich mit 35 noch irgendwo rumspringen werde"), die EM 2020 aber fest im Blick hat. So unbesorgt lässt sich die komplette Elf von Marseille betrachten respektive der komplette Kader - mit zwei Ausnahmen.

Auf den hinteren Metern des Weges zum Omnibus verkündete zur allgemeinen Überraschung Podolski, dass er von einem Rücktritt nichts wissen will. "Auch wenn ich eine Drei vorne habe - ich muss mich vor keinem verstecken", sagte er und berief sich dabei auf seinen Patenonkel Löw: "Der Trainer kann das bestätigen." Ob er sich damit einen Gefallen tut? Podolski fährt mit 18 Turnierminuten heim, die aus dem Spiel gegen schon besiegte Slowaken stammten und aussahen wie das Abschiedsgeschenk seines Patenonkels.

Schwieriger ist Schweinsteigers Fall. Er ist der Kapitän und kein Reservespieler. Mit allem, was er an Kraft und Motivation aufbringen konnte, hat er sich in dieses Turnier gearbeitet. Seine nächsten Perspektiven sind einerseits sehr erfreulich - Hochzeit mit Ana Ivanovic - und andererseits sehr ungewiss: sein Job bei José Mourinhos Manchester United. "Insgesamt war die Leistung gut. Dafür, dass er so lange verletzt war, hat er uns schon gut geholfen", lobte Joachim Löw den Kapitän nicht überschwänglich, aber ausreichend. Das Handspiel? Nach Ansicht des Bundestrainers ein Unfall. "Ich war froh, hier überhaupt dabei zu sein", erklärte Schweinsteiger, und dann ging er davon in eine unbekannte Zukunft.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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