Lucio:Der Eisenbahnschienen durchtritt

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Der bevorstehende Wechsel des Brasilianers zum Bundesliga-Konkurrenten schmeckt dem Leverkusen-Manager Reiner Calmund überhaupt nicht. Kein Wunder: Lucio ist stark in der Defensive und im Angriff. Damit bekommt der FC Bayern einen weltmeisterlichen Verteidiger.

Von Ulrich Hartmann

Am Samstag nach dem Spiel gegen Stuttgart hat Lucio noch ein wichtiges Gespräch führen müssen. Das heißt, eigentlich hat er gar nicht gesprochen, sondern nur zugehört und gelächelt. "Wenn Du schon unbedingt wechseln musst", hat ein Fotoreporter mit sehr vielen Apparaten um den Hals auf dem Stadion-Parkplatz zu Lucio gesagt und energisch den Zeigefinger bewegt, "wenn das schon unbedingt sein muss, dann bloß nicht, auf keinen Fall, zu den Bayern!"

Lucio, 26, hat so höflich gelächelt, dass seine metallene Zahnklammer in der Abendsonne blitzte, aber er hat nichts gesagt, weil er entweder nichts verstanden oder sich seinen Teil gedacht hat. Schon kurz nach dem 2:0 über Stuttgart, bei dem Lucio wegen eines lädierten Knies nicht aktiv war, wurde in Leverkusen über das gemunkelt, was zur Tatsache gereift und nur noch von vertraglichen Details abhängig ist: Lucimar da Silva Ferreira Lucio, geboren im Mai 1978 in Brasilia, amtierender Weltmeister mit dem brasilianischen Fußballteam und einer der besten Abwehrakteure der Bundesliga, wird ab kommender Saison für den FC Bayern München spielen.

Kein Ende des Preispokers

Nach dreieinhalb Jahren, 92 Bundesliga-Einsätzen und 15 Liga-Treffern für Bayer Leverkusen wechselt er trotz eines bis 2007 datierten Vertrags zu jenem Klub, der demnächst vom Trainer Felix Magath betreut wird. Die Ablösesumme wird sich den 15 Millionen Euro nähern, die in Leverkusen im Vertrag festgeschrieben waren - die Preispoker ist noch nicht abgeschlossen.

Zum Abschied ist Lucio von den Leverkusener Fans mit den zweitmeisten Stimmen hinter Ulf Kirsten in die "Bayer-Elf des Jahrhunderts" gewählt worden - an die Seite von Vereinslegenden, die für diese Ehre deutlich mehr Spiele absolvieren mussten.

Man spürt daran, welch große Stücke sie in Leverkusen auf den Brasilianer halten, der im Januar 2001 für 17,5 Millionen Mark als drittteuerster Bundesliga-Einkauf der Geschichte aus Porto Alegre an den Rhein gewechselt war. Wenn Manager Reiner Calmund über ihn spricht, klingt das wie eine Liebeserklärung: "Sein Siegeswillen, sein Einsatz und seine Körpersprache sind unvergleichlich." Dabei sind unerschrockene Ausputzermentalität und lokomotivartige Offensivausflüge des 1,88 großen Bibellesers eher rustikal zu nennen.

Der Innenverteidiger bewegt sich mit dem Ball nicht gerade filigran, aber er ist so schnell und so schwer zu stoppen, dass die gegnerischen Abwehrspieler eher zu Eskorte neigen als dazu, dem furchtlosen Gegner grob in die Parade zu fahren. Ungefähr diese Körpersprache hatte Calmund wohl gemeint, als er nach Lucios Verpflichtung mitteilte, der Neue aus Südamerika sei "ein Killer - der tritt Eisenbahnschienen durch".

Der als tumber Herkules apostrophierte Lucio hatte dann allerdings auch spielerisch enormen Anteil an den Erfolgen der Leverkusener, als diese vor zwei Jahren unter dem Trainer Klaus Toppmöller ästhetisch hochwertige Fußballware boten - als Bundesliga-Zweiter sowie als unterlegener Finalist in DFB-Pokal und Champions League allerdings ohne Titel. Seinen Hunger nach einer Trophäe für die Vita musste der Familienvater Lucio in jenem Jahr mit Brasiliens Nationalelf stillen, die unter seiner Mithilfe durch einen 2:0-Sieg gegen Deutschland in Japan Weltmeister wurde. Als einziger aktueller WM-Titelträger der Liga spielt Lucio demnächst in München.

Vor einigen Monaten hatte er noch ein Engagement im Ausland favorisiert. Nun hat er sich doch für die Münchner entschieden. "Der FC Bayern gehört für mich zu den Top Five in Europa", sagt er. Wirtschaftliche Gründe dürften eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. "Es gibt hundert Klubs, die Lucio haben wollen", sagt Calmund, "aber nur fünf, die sich ihn leisten können." Deshalb also "Top Five". Mit ihren brasilianischen Exporten ins Bayernland werden die Leverkusener innerhalb von zwei Jahren fast neun Millionen Euro erwirtschaftet haben.

Im Sommer 2002 war bereits der 6,1-Millionen-Einkauf Zé Roberto für 9,5 Millionen Euro an den FC Bayern veräußert worden. Lucio, ein Freund von Kirchenmusik und so gläubig, dass er seine religiösen Botschaften gern auf T-Shirts unter dem hochgezogenen Trikot verkündet ("Jesus ist meine Kraft"), bringt den Leverkusenern nun zwar Geld, aber wohl auch Schwierigkeiten in der Innenverteidigung. "Gleichwertig ist Lucio nicht zu ersetzen", sagt Calmund.

Beim FC Bayern hingegen, wo Lucio nach Bochums Vahid Hashemian zweiter Zugang ist, gewinnen sie einen Mann für die Spieleröffnung, die aus der Abwehrkette heraus von den offensiv nur begrenzt talentierten Linke, Kovac und Kuffour oft sehr vernachlässigt worden ist. Reiner Calmund weiß um den Druck, den Lucio von dieser Position aus auf die Kontrahenten aufzubauen versteht und kommentiert den bevorstehenden Wechsel in weiser Voraussicht mit Anzeichen der Furcht: "Ich würde Lucio lieber ins Ausland als zum FC Bayern verkaufen, damit er uns nachher nicht auf der Nase herumtanzt."

© SZ vom 26.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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