Lowell Bailey:Der von Bisons träumte

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Der US-Biathlet Bailey lief dem Podium lange hinterher. So lange, dass er seinen Sport aufgeben wollte und eine Bisonfarm übernehmen. Nun ist er neuerdings Weltmeister.

Von Joachim Mölter, Hochfilzen

Hundert Mal ist Lowell Bailey diese letzte Runde noch mal durch den Kopf gegangen, hat er diese zwei Kilometer noch mal abgespult vor seinem inneren Auge. Als Zweiter war der Amerikaner am Sonntag im Verfolgungsrennen der Biathlon-WM in Hochfilzen in die letzte Etappe gegangen, den späteren Sieger Martin Fourcade aus Frankreich würde er nicht mehr einholen, das war klar. Aber eine Medaille war in Reichweite, seine erste überhaupt, nach all den Jahren der Quälerei und des Verzichts. Doch dann überholten ihn erst die Norweger Ole Einar Björndalen und Johannes Thingnes Bö, und dann noch der Russe Anton Schipulin und der Tscheche Ondrej Moravec. Aus war der Traum.

"Lass' dir die Medaille nicht wieder entgehen", sagte sich Lowell Bailey am Donnerstag, als er im Einzelrennen in die letzte Runde ging, wieder als Zweiter, diesmal nur hinter Moravec. "Die letzte Runde hat sich wie 40 Kilometer angefühlt, nicht wie vier", berichtete Bailey später, als er sich mit einem fulminanten Endspurt seine Medaille gesichert hatte, eine goldene sogar, 3,3 Sekunden vor dem Tschechen und 21,2 vor dem Titelverteidiger Fourcade. "Ich hatte das Glück, einer der letzten Starter zu sein (Nummer 100, Anm.), ich kannte Ondrejs Zwischenzeiten, und die Betreuer aus meinem Team haben sich die Seele aus dem Leib gebrüllt, um mich anzufeuern", schilderte Bailey die letzten Augenblicke, die er wie einen Traum empfand. "Es ist wie im Klischee, unglaublich", sagte er: "Ich warte, dass mich jemand aufweckt."

Lowell Bailey aus dem Olympiaort Lake Placid hat 35 Jahre alt werden müssen, ehe er seine erste WM-Medaille gewann, es war auch die erste für den Biathlon-Verband der USA. Er hat dann gar nicht mehr aufhören können, sich bei allen im Team zu bedanken, "da ist so viel Arbeit in diese Medaille geflossen von so vielen Leuten, ich habe von einer Menge Leute da und dort Tipps bekommen und genommen - es hat sich gelohnt". Sein Titelgewinn ist als Sensation gefeiert worden, aber das hat Martin Fourcade gleich mal relativiert: "Wenn einer Vierter im Sprint war und Sechster in der Verfolgung, kann man nicht von einer Überraschung reden." Der Franzose hatte den Amerikaner jedenfalls im Blick gehabt, wie dieser später selbst erzählte. Nach dem Verfolgungsrennen war der Weltmeister Fourcade zu ihm gekommen und hatte ihn getröstet: "Er wusste, dass ich eine Medaille verpasst hatte", sagte Bailey, "das hat mir viel bedeutet."

Es gab keinen, der Lowell Bailey den Erfolg missgegönnt hätte; der Amerikaner setzt sich als Athletenvertreter ja für die Interessen seiner Kollegen ein. "Es ist toll, dass jemand gewinnt, der nicht aus Europa kommt. Das macht Biathlon nur größer", sagte Fourcade. Moravec lobte: "Er ist ein guter Kerl, er hat das verdient." Selbst der Deutsche Erik Lesser haderte nicht, obwohl er vom Mann mit der Nummer 100 quasi im letzten Moment vom Siegerpodest auf Platz vier geschubst worden war: "Ich gönne es ihm. Wenn man viermal Null schießt, hat man eine Medaille verdient."

Beim Einzelrennen kommt es ja mehr aufs tadellose Schießen an als in den anderen Biathlon-Disziplinen: Statt bei einem Fehlschuss eine kleine Strafrunde drehen zu müssen, bekommen die Athleten eine Minute auf ihre Zeit draufgeschlagen. Am Donnerstag kamen nur drei Athleten straffrei über die 20 km: Bailey, Moravec und Landsmann Michal Krcmar, der Sechster wurde. Fourcade bekam zwei Minuten auf seine beste Laufzeit aufgebrummt, Lesser schoss nur einmal daneben. Die übrigen drei Deutschen - Simon Schempp (Uhingen/13., zwei Fehler), Benedikt Doll (Breitnau/19., drei) und Arnd Peiffer (Clausthal-Zellerfeld/34., vier) - hatten sich frühzeitig um ihre Chancen gebracht.

Das hätte beinahe auch Lowell Bailey getan, er wollte im vorigen Jahr schon aufhören und auf der Bisonfarm seiner Schwiegereltern einsteigen. Seine Frau Erika überredete ihn weiterzumachen, "es war eine Familien-Entscheidung", versicherte Bailey, "wir mussten ein bisschen kreativ werden". Im vorigen Sommer kam seine Tochter Ophelia zur Welt, und die wollte er nicht missen auf seinen Biathlon-Reisen um die Welt. Frau und Kind waren auch in Hochfilzen dabei. "Ich hätte nicht gedacht, wie viel ich von meiner Familie zurückbekomme", sagte Bailey: "Egal, ob du Erster oder Letzter in einem Biathlon-Rennen bist - du kommst heim und bist die Nummer eins."

Lowell Bailey hat viel erzählt und erklärt an diesem Donnerstag. Er hat Selbstzweifel ausgebreitet: "Wenn man älter wird und nie auf dem Podium steht, denkt man irgendwann, man hat es einfach nicht drauf. Dieses Jahr war mir das egal, ich wollte nur noch das Beste aus meinem Talent herausholen." Und weil das so gut geklappt hat, will Lowell Bailey, einer der wenigen Linkshänder im Feld, nun auch noch bis zu den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang/Südkorea weitermachen. Er kann das jetzt ganz gelassen angehen, jetzt nachdem er seine Medaille hat, nachdem er das Trauma von der Verfolgung in den Traum vom Einzel verwandelt hat. "Sonst wäre immer dieses bittersüße Gefühl geblieben, dass ich so nah dran gewesen bin."

© SZ vom 17.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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