Lissabon:Der Tod und das Fest

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Es ist der erste Todesfall der Europameisterschaft in Portugal. Und doch steht er mit dem Sportereignis nicht in direktem Zusammenhang. Für einen Moment verharrt die EM im Schrecken über den Mord an einem englischen Fan - und erkennt ihn erleichtert als Einzelfall.

Von Holger Gertz

Man kann sich manchmal direkt wundern, dass so wenig kaputt geht bei einer EM, deren Spiele auch in einer so schönen Stadt wie Lissabon stattfinden. Lissabon mit seinen außen gekachelten Häusern, mit dieser kleinen, wackeligen Straßenbahn, die seit über hundert Jahren den Hügel hinaufschnauft, mit losen Steinen im verfallenen Pflasterbelag der Seitenstraßen. Lissabon ist fragil, wie alles, was schön ist.

Als am Montag, vor dem Spiel ihrer Teams, die fleischigen englischen Fans und die lauten aus Kroatien hier einfielen und vorbeimarschierten an Denkmälern, die - auf dem Sockel steht es - etwa gewidmet sind dem Herrn "Joao da Camara, Poeta e Dramaturgo": es wirkte wie die Übernahme eines stillen Mikrokosmos durch das überhitzte Imperium des Fußballs.

Wenn Welten aufeinander prallen, springt ein Funke, so war es auch diesmal, aber so wie es aussieht, waren nicht die Engländer schuld, sondern ein Ukrainer, 31 Jahre alt. Nachts um vier hatte er am Rossio-Square, wo die Fans nach den Spielen feiern, in der Menge gestanden und versucht, die günstige Gelegenheit für sein Handwerk zu nutzen. Er ist Taschendieb, der Polizei bekannt.

Die Engländer, so erzählte es ein Fan später dem Guardian, hätten die Polizisten auf den Typen aufmerksam gemacht, aber die hätten nichts unternommen. Ein Engländer habe ihn schließlich weggeschubst, er sei verschwunden, aber ein paar Minuten später zurückgekommen, auf einen Tisch zugegangen, an dem englische Fans saßen, dann war da das Messer, mit dem stach er zu.

Ein falscher Verdacht

Ein Mädchen schrie, sie hielten den Ukrainer fest, während der Engländer am Boden lag im Blut. Dann kam die Polizei und legte dem Messermann Handschellen an, und der Krankenwagen raste mit dem verwundeten Mann ins Lissaboner Sao Joseph Hospital, wo er, 28 Jahre alt, starb. Die Verletzungen waren zu schwer.

Am nächsten Morgen hieß es erst, ein Kroate sei der Tat verdächtig: die Verbindung zwischen Fußball und Gewalt, zwischen sportlicher Rivalität und blutigem Amok schien hergestellt. Es wäre ein verheerendes Signal gewesen für die EM und auch die Uefa, die ja für das Turnier ein Logo entwickelt hat mit einem Ball, der das pochende Zentrum eines Herzens ist. Das Logo erinnert an die Signets von Privat-TV-Sendern, wenn ein Liebesfilm angekündigt wird.

Fußball soll als eine Leidenschaft verkauft werden, in der sich alle Völker verständigen. Als später der Ukrainer als mutmaßlicher Täter ermittelt wurde, war - so zynisch das klingt - überall die Erleichterung spürbar. Natürlich bedauere die Uefa den Tod, erklärte deren Kommunikationsdirektor William Gaillard. "Wir sind traurig, dass dies passiert ist. Mit der Fußball-EM hat das aber nur am Rande zu tun."

Der portugiesische Polizeisprecher Eduardo Alberto hatte zuvor schon ziemlich wortgleich Stellung bezogen - und auch das zwar nicht für den ermordeten Engländer, aber für die Veranstaltung wesentliche Detail hervorgehoben. "Diese Person" - er meinte den Täter - "hatte nichts mit der EM zu tun." Man hat sich auf eine Sprachregelung geeinigt: Einzelschicksal, nicht zu verhindern.

Wie gesagt, eigentlich ist es erstaunlich, dass nicht mehr passiert, aber jedem der Verantwortlichen hier ist jeden Tag das Schwanken des Bodens anzumerken, auf dem er sich befindet. Die Tat vom Rossio-Platz hat das nur noch deutlicher gemacht. Natürlich werden Fragen bleiben. Wenn die Engländer wirklich schon vor der Tat nach der portugiesischen Polizei gerufen haben - warum ist sie nicht eingeschritten?

Erst recht, wenn der Ukrainer in ihren Listen als auffällig registriert war. Wie werden die bunten englischen Blätter mit dem Drama umgehen, die - in Spanien gedruckt - jeden Morgen als erste an den Kiosken hängen und die martialische Untermalung liefern zu diesem Fußballfest mit Herz?

Tadelloses Verhalten

Polizeisprecher Alberto hat sich sehr beeilt, die englischen Fans zu loben: "Wir danken ihnen für ihr tadelloses Verhalten." Er meinte die Fans in Lissabon und vergaß für einen Augenblick jene an der Algarve, die sich auf ihre Art um den allmählichen Abbruch einzelner Straßen in Albufeira bemüht haben; die Polizei konnte mit Mühe schlichten.

Wenn es Theater mit Engländern gibt, blenden sie in den Nachrichtensendungen des portugiesischen Fernsehens immer den aufgeregt rot leuchtenden Schriftzug HOOLIGANS! ein - auch wenn die Krawallmacher nur betrunkene Fans waren. Sie stehen in Portugal dem Problem bewusst, aber auch ziemlich ängstlich gegenüber.

Eduardo Alberto, der Sprecher, hatte entsprechend die Zukunft im Blick, als er sagte, er könne sich nicht vorstellen, dass die Engländer sich jetzt rächen wollten. An den Portugiesen, von denen welche vielleicht nicht genug aufgepasst haben am Rossio. Die Ukrainer, von denen einer zugestochen hat, spielen ja nicht mit. "Wir glauben nicht, dass englische Fans irgend jemandem gegenüber Vorbehalte haben werden."

Er hatte die Zukunft im Blick, und sie ist ziemlich nah. Im Viertelfinale wird England in Lissabon spielen. Gegen Portugal.

© Süddeutsche Zeitung vom 23.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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