Leichtathletik-EM:"Der dopende Athlet ist kriminell"

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Zum Start der Leichtathletik-EM in Göteborg beklagt DLV-Ehrenpräsident Helmut Digel mangelnde Gesetzesinitiativen im deutschen Antidoping-Kampf.

Interview: Thomas Hahn

Am Montag beginnt die Leichtathletik-EM in Göteborg und damit ein weiteres Ereignis, das Begeisterung und Misstrauen gleichermaßen weckt. Nach den Skandalen um ihren Radhelden Jan Ullrich diskutieren gerade die Deutschen eifrig über das Dopingproblem und die Frage die auch die Leichtathletik stark betrifft: Was tun dagegen?

Der Soziologe Helmut Digel. (Foto: Foto: AP)

Die SZ sprach darüber mit dem Tübinger Soziologen Helmut Digel, 62, von 1993 bis 2001 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), heute DLV-Ehrenpräsident und Vizepräsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF.

SZ: Herr Professor Digel, die schwedischen Leichtathleten erwarten eine EM voller Erfolg und Begeisterung, die deutschen dagegen beklagen ihren sinkenden Stellenwert. Was ist Ihre Beobachtung?

Digel: Schweden hat den Vorteil, dass in dieser Sportnation der Fußball nicht die gleiche Rolle spielt wie in Deutschland. Und es hat Idole, da hat die deutsche Leichtathletik erhebliche Einbußen. Carolina Klüft, Kajsa Bergqvist, Christian Olsson - das sind Superstars.

SZ: Seltsamerweise denken Wenige bei den Schweden an Doping. Warum?

Digel: In Schweden gibt es zumindest eine positive Einstellung zum Hochleistungssport, die bei uns eher selten geworden ist. Man hat staatlicherseits auf eine konsequente Überwachung des Dopings Wert gelegt, die Sportorganisationen tragen das Kontrollsystem mit, indem sie auch die Sanktionen mittragen. Auch die Schweden hatten große Dopingfälle. Schweden ist sicherlich keine dopingfreie Zone, aber Schweden ist sich des Problems bewusst, dass der Dopingbetrug ein Teil des Systems geworden ist. Und die Athleten haben noch nie öffentlich die Leistungen ihrer Konkurrenten in Frage gestellt, zumindest ist es mir nicht bekannt. Dadurch wirken die Auftritte der schwedischen Athleten selbstbewusster und natürlicher.

SZ: Manche Deutsche sind da anders. Überhaupt wirkt die Antidoping-Debatte in Deutschland nicht sehr nachhaltig.

Digel: Ich hatte diese Debatte schon sehr früh als Heuchelei bezeichnet, und ich möchte von dieser Wertung auch gar nichts zurücknehmen. Weil ich für mich in Anspruch nehme, nach 30-jähriger Funktionärstätigkeit das Phänomen ausreichend beurteilen zu können. Ich weiß, dass manche das als Nestbeschmutzung sehen, wenn ein aktiver Funktionär sich in dieser Weise äußert...

SZ: Vielleicht ist es auch Neid...

Digel: ...weil man darauf hinweisen kann, dass dieser Funktionär sein Ziel nicht erreicht hat, im deutschen Spitzensport Verantwortung zu übernehmen. Das weiß ich auch. Solche Mutmaßungen muss ich akzeptieren. Aber die so etwas mutmaßen, sollten doch zunächst einmal meine Argumente prüfen.

SZ: Die wären?

Digel: 1976 gab es in Deutschland zum ersten Mal eine Antidopingkommission, um den Betrug im deutschen Hochleistungssport genauer unter die Lupe zu nehmen. Ausgangspunkt war der Betrug bei den Olympischen Spielen in Montreal. In einer dreimonatigen Anhörung hat diese Kommission, der ich als Assistent von Professor Ommo Grupe angehörte, alle beteiligten Verbände befragt, Trainer, Ärzte, Funktionäre. Ergebnis: Im deutschen Sport wird umfassend betrogen - im westdeutschen Sport wohlgemerkt. Der Bundestag des Deutschen Sportbundes verabschiedete eine Grundsatzerklärung für den Spitzensport. Alle hatten sich darauf verständigt, konsequent gegen Doping zu kämpfen.

SZ: Aber?

Digel: Nach 30 Jahren muss man erkennen, dass man hier eine unendliche Geschichte fortschreibt. Wir Deutschen haben keineswegs eine angenehme Doping-Vergangenheit. Es gab mächtige deutsche Skandale mit mächtigen Diskussionen. Ein Merkmal dieser Diskussionen war immer, dass sie nur kurzfristig und äußerst emotional geführt wurden. Jedes Mal sagten alle: So darf es nicht weitergehen. Und danach setzten alle auf das Vergessen der öffentlichen Meinung. Man muss somit den Verdacht haben, dass die Verantwortlichen des Sports gar kein Interesse daran haben, das Problem entschieden anzugehen.

SZ: Jetzt wird ja diskutiert.

Digel: Schauen Sie doch mal diese Diskussionen an. Wie zum Beispiel das Fernsehen reagiert hat auf die jüngsten Dopingskandale im Radsport. Es hat mit Wenn-Dann-Aussagen reagiert. Typisch. Wenn das so weitergeht, müssen wir auch überlegen, ob wir so weitermachen. Dabei ist das Wissen der Sender über diesen Sport kein anderes als das Wissen, dass sie schon hatten, als sie sich zum Sponsor dieses Sports deklarierten.

SZ: Wer müsste was ändern?

Digel: Wir haben den Sport in seiner selbstdefinierten Autonomie ernstzunehmen. Der Sport hat seine Hausaufgaben zu erledigen, er hat seine Regeln zu überwachen und Sanktionen durchzusetzen. Der Nachteil der autonomen Sportgerichtsbarkeit ist allerdings, dass von den Sanktionen so gut wie keine anderen Personen erfasst sind außer die Athleten. Und wenn dem so ist, darf der Sport sich nicht wehren, im Gegenteil, er muss es fordern, dass der andere Partner in diesem Spiel eine wichtige Rolle spielt, und das ist der Staat. Und hier ist eines klar: Es geht nicht um die Frage, Arzneimittelgesetz oder Antidopinggesetz, das ist ein semantisches Problem. Es geht um die Frage: Gibt es in unserem staatlichen System Strukturen, die tragfähig genug sind, um in den Dopingsumpf mit Dealern, Pharmagangstern, Athleten, Trainern hineinzukommen? Die Polizei braucht einen ständigen Ermittlungsauftrag, um mit Methoden gegen Doping vorzugehen, wie sie nur ihr zu eigen sind.

SZ: Dann ist es also doch nicht nur eine semantische Frage, ob es ein Antidopinggesetz gibt oder nicht.

Digel: Wenn ein Arzneimittelgesetz konsequent befolgt würde, dann könnte man auf der Grundlage dieses Gesetzes alle Beteiligten am Dopingbetrug überführen. Die Frage ist: Warum greift niemand auf der Grundlage der bestehenden Gesetze ein, obwohl es in Deutschland hinreichend Dopingverdacht gibt?

SZ: Offensichtlich weil die rechtliche Lage kein Bewusstsein schafft dafür, dass Doping ein ernstes Vergehen ist.

Digel: Kein Bewusstsein. Dafür spricht sehr viel. Dann ist es nicht eine Frage des Gesetzes, sondern eine Frage der Aufsicht. Wer Gesetze verabschiedet, muss sie auch beaufsichtigen. Dieses Problem lösen sie nicht, indem sie einem Gesetz einen anderen Namen geben.

SZ: Für was sind Sie denn jetzt? Sie sagen, ein Antidopinggesetz wäre nur ein semantischer Unterschied, das sagt Thomas Bach, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, auch, sogar der Antidopingexperte Werner Franke findet ein Arzneimittelgesetz ausreichend. Anscheinend sind alle einer Meinung, dabei reicht es ja offensichtlich nicht.

Digel: Nein, wir im DLV-Präsidium meinen übereinstimmend, dass wir ein Antidopinggesetz benötigen. Deswegen möchte ich hinter diese Forderung auch gar nicht zurück. Ich habe sie selbst 1993 zum ersten Mal erhoben. Mich stört an der aktuellen Diskussion, dass die einen ein Antidopinggesetz fordern, aber nicht sagen, wie es umgesetzt werden soll. Und dass die anderen dagegen sind. Mit einer sehr merkwürdigen Argumentation.

SZ: Die Kritiker beklagen, dass der Athlet kriminalisiert werde.

Digel: Dieses Argument ist geradezu schlimm. Denn der saubere Athlet würde durch ein Antidopinggesetz geschützt. Der dopende Athlet ist kriminell, der wird nicht kriminalisiert. Der muss hart bestraft werden.

SZ: Die Kritiker sagen auch, das Gesetz schränke die Selbstbestimmung der Sportorganisation ein.

Digel: Wer das behauptet, gefährdet sogar die Selbstbestimmung der Sportorganisationen. Denn im Subsidiaritätsprinzip zwischen Sport und Staat kommt es genau darauf an, dass man weiß, was der Sport leisten kann und was der Staat leisten muss. Und wenn der Sport sich richtig definiert, dann bescheidet er sich und sagt, dass er nicht alles leisten kann.

SZ: Jetzt gibt es einen ernstzunehmenden Vorstoß in Bayern für ein Antidopinggesetz, den DLV-Präsident Clemens Prokop mitgestaltet.

Digel: Wenn den Ankündigungen wirksame Taten folgen, kann ich das nur begrüßen.

SZ: Aber Herr Bach will nicht.

Digel: Herr Bach hat ein Problem: Herr Bach ist in der Welt des Hochleistungssports groß geworden als Fecht-Olympiasieger von 1976, in einer Zeit, in der Höchstleistungen erbracht wurden, die unter Dopingverdacht standen, ohne dass es Regeln gab, um gegen Doping vorzugehen. Viele jener Sportfunktionäre, die so mit dem Sport groß geworden sind, sehen nun die Gefahr, dass der Sport in seinem gesellschaftlichen Stellenwert in Frage gestellt werden könnte, wenn das gesamte Ausmaß des Doping-Phänomens öffentlich würde. Ich kann das nachvollziehen. Aber wir haben der Wahrheit ganz ins Gesicht zu sehen.

SZ: Wenn Herr Bach nach 30 Jahren noch nicht aus seiner 70er-Jahre-Nostalgie herausgefunden hat, dürfte sich aber zumindest auf DOSB-Ebene wenig tun.

Digel: Diese Art von Bearbeitung des Problems war nunmal sehr erfolgreich. Gerade wenn man nicht an der Lösung des Problems interessiert ist, ist keine Lösung die beste Lösung, weil man dann auf die Vergesslichkeit der Öffentlichkeit setzen kann. Deshalb käme es zu ganz anderen Reaktionen, wenn zum Beispiel die Wirtschaft oder die Massenmedien Konsequenzen ziehen würden. Die Sprache des Geldes ist eine, die alle sprechen und die auch alle sehr gut verstehen. Außerdem: Die öffentliche Wahrnehmung ist nicht ganz unwichtig. Man kann schon länger erkennen, dass sich Leute wegen des Dopingbetrugs vom Sport abwenden.

SZ: Auch von der Leichtathletik?

Digel: Die Leichtathletik hat da durchaus ihre Probleme und muss daran interessiert sein zu zeigen, dass sie saubere Athleten hat. Wenn ihr das nicht gelingt, ist ihre Entwicklung gefährdet. Wir müssen uns neu verständigen über die Qualität der sportlichen Leistung, dazu gehört auch, dass man in Deutschland eine 10,2 über 100 Meter nicht als Tourismus bezeichnet. Wir müssen uns vor allem von unserer Rekord-Orientierung entfernen. Wir wollen den Zuschauer zu Sensationen führen, die es in der Regel nicht mehr geben kann. Man muss begreifen, dass dieser Kampf ein sehr konsequentes Kontroll- und Sanktionssystem benötigt.

SZ: Um anzuzeigen, dass man seine Intelligenz weniger in pharmazeutische Erwägungen steckt als in sportliche?

Digel: Richtig. In eine gute Leistungsdiagnostik und Trainingslehre, und in eine intelligente Führung der Athleten.

SZ: Die Schweden sagen, sie hätten sich an der alten Ost-Trainingslehre orientiert und sie in das Konzept für einen dopingfreien Sport übersetzt.

Digel: Der dopingfreie Sport ist nur dann möglich, wenn der Trainer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Wenn der Pharmakologe derjenige ist, der die Spitzenleistung bewirkt, dann haben wir keine Chance. Nun haben wir als Deutsche in den vergangenen Jahren ausgerechnet hier am meisten geschludert. Deswegen ist es so wichtig, dass der DOSB jetzt eine große Trainer-Offensive plant. Ein guter Trainer ist auch ein gutes Mittel im Kampf gegen Doping. Er ist ein Korrektiv, weil er seine Leistung nicht in Frage gestellt wissen möchte, bloß weil sein Athlet manipuliert.

SZ: Wobei Pharmakologen und Trainer oft eng zusammenarbeiten - wenn der Trainer nicht selbst als Pharmakologe tätig wird wie der wegen Minderjährigen-Dopings verurteilte Thomas Springstein.

Digel: Das ist genau das Problem, deswegen ist der Herr Springstein für mich die Karikatur eines guten Trainers. Denn wenn ich mich nur auf Substanzen verlasse, die mir andere empfehlen, hat das mit dem Ideal des Trainertums nichts zu tun.

SZ: Haben Sie es sich im Nachhinein manchmal vorgeworfen, dass Sie als DLV-Präsident so lange auf Trainer aus der DDR gesetzt haben, obwohl sie ins Dopingsystem dort verstrickt waren?

Digel: Ich kenne viele Trainer aus der DDR, und die meisten hatten eine enorme methodische Kompetenz. Aber es gibt natürlich auch eine Schattenseite. Weil die DDR den Dopingbetrug systematisch gesteuert hatte, war der Trainer ein Teil in diesem System, und weil er in diesem System groß geworden ist, war es für ihn schwierig, seinen Beruf ohne diese Steuerung auszuüben. Aber unter methodischen Gesichtspunkten, unter dem Aspekt der Leistungsdiagnostik waren die DDR-Trainer besser ausgebildet als die Trainer im Westen.

SZ: Also kein Fehler.

Digel: Nein.

© SZ vom 5.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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