Leeds United:Im Namen des Urgroßvaters

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„Zänk ju! Zänk ju!“ Marcelo Bielsa spricht kein Englisch. (Foto: Mike Egerton/imago images/PA Images)

Argentiniens Trainerlegende Marcelo Bielsa führt den englischen Traditionsverein zurück in die Premier League.

Von Javier Cáceres, Berlin

Es gab eine Zeit, da versteckte sich Marcelo Bielsa, 64, hinter einer imaginären Maske. Selbst als er seinen vielleicht größten Triumph feierte, als er 1990 mit den Newell's Old Boys in Argentinien Meister wurde, war sein Gestus rigide wie Granit - mochte er auch noch so oft und von Sinnen "¡Newell's, carajo!" rufen. Es gab auch eine Zeit, in der man nicht mal die Maske sah: Bei Pressekonferenzen schaute er auf den Tisch, weil er Fragen ohne Ansehen des Fragenden und der Relevanz seines jeweiligen Mediums beantworten wollte. Am Freitagabend aber, als Marcelo Bielsa vor seinem Ein-Zimmer-Apartment in Wheterby, in Laufweite des Trainingsgeländes von Leeds United, aus dem Auto stieg, spiegelte sich Glück in seinem Gesicht: das Glück der Menschen, die ihn aufgesucht hatten, um ihn zu feiern.

Nach 16 Jahren der Finsternis hatte Leeds United, einer der traditionsreichsten Klubs in England, den Aufstieg in die Premier League vollbracht. Vorerst endete also eine Ära der Wirren und des Chaos, die im vorübergehenden Sturz in die Drittklassigkeit gipfelte. Bielsa lächelte, stieß Ellbogen, hörte Applaus und Jubel der Fans, und rief: "Zänk ju! Zänk ju!" Er spreche kein Englisch, sagte er, doch um ein Lob zu leugnen, reichten die Sprachkenntnisse dann doch. "You're God!", sagte ihm ein Mann. "No", sagte Bielsa, den sie El Loco nennen.

Dass er diesen Alias-Namen verpasst bekommen habe, sei darauf zurückzuführen, dass "einige meiner Antworten nicht mit denen übereinstimmen, die normalerweise gegeben werden", sagte er selbst einmal. Gerechtfertigt sei der Spitzname allemal, "weil er übertriebenen Verhaltensweisen gehorcht", die er an den Tag lege und die darüber hinausgehen, dass er kaum je etwas anderes trägt als den Jogginganzug.

Beispiele? Einmal soll er einer Horde Hooligans, die ihm nachgestellt hatten, die Stirn geboten haben - mit einer Handgranate und der Drohung, an der Lasche zu ziehen. Er übernahm einen Kiosk, um die Zeitungen vor allen anderen zu lesen. Nach einer Niederlage schloss er sich 48 Stunden im Hotel ein und war nicht ansprechbar.

Bielsa hat eine Lehre begründet, der auch Pep Guardiola folgt

Vor allem hat Bielsa sich einen sehr eigenen Diskurs über Fußball angeeignet, in dem nicht nur die angeblich 36 verschiedenen Arten von Pässen eine Rolle spielen, mit denen Fußballer auf dem Platz miteinander kommunizieren - sondern auch Fragen der Moral und Ethik, die die soziale Realität mit dem schönen Spiel verbinden. "Bielsa redet, als ob er im französischen Poststrukturalismus ausgebildet wäre", sagte einmal der argentinische Soziologe Horacio González. Nun hat er zumindest im obsessiven Streben nach Perfektion eine Wissenschaft für sich begründet, der Trainer wie Pep Guardiola folgen.

Die Argentinier haben Ahnenforschung betrieben, um herauszufinden, worauf diese Obsession beruht, sie landeten bei Bielsas Urgroßvater Pedro. Er war ein Handwerker, der nach Beschwerden von Kunden die gewünschten Korrekturen erledigte und sie nicht berechnete: "Arbeit muss man nicht nur machen. Man muss sie gut machen." Das Motto des Ahnen wurde Familien-DNA. Und brachte exzellente Köpfe hervor. Bielsas Opa? Verfasser des Strafgesetzbuchs Argentiniens. Der Vater? Ein angesehener Jurist. Die Mutter? Eine brillante Pädagogin. Die Schwester María Eugenia? Ministerin für ländliche Entwicklung. Bruder Rafael? Früher Außenminister, heute Botschafter in Chile - dem Land, in dem Marcelo Bielsa Nationalcoach war, ehe er nach Bilbao, Marseille, Lille und Leeds zog.

Als die Verantwortlichen von Leeds United nach Buenos Aires flogen, trafen sie einen Mann, der in den 72 Stunden, die zwischen telefonischer Verabredung und Verhandlungsbeginn lagen, alle Leeds-Spiele der Vorsaison sowie alle Formationen der Gegner seziert hatte. Einen Loco, dessen erste Amtshandlung wenig später darin bestehen sollte, die Spieler im Stadion an der Elland Road drei Stunden lang Müll zusammenfegen zu lassen. So lange müsse ein Fan für eine Eintrittskarte schuften.

Es war die erste von vielen Anekdoten, die es aus der zweiten englischen Liga in die Welt schafften und den Fehlversuch des Aufstiegs im ersten Jahr überdauerten. Im Januar 2019 sorgte ein Spionagefall für Aufsehen, Bielsa hatte einen Scout mit Fernglas zum Training des Gegners geschickt. Die 200 000 Euro Geldstrafe, die der Verband wegen des "Verstoßes gegen das Fairplay" verhängte, zahlte er aus eigener Tasche, nachdem er in einer 70-minütigen Pressekonferenz die Daten offengelegt und erklärt hatte, sie würden erwiesenermaßen nicht helfen, Spiele zu gewinnen: "Ich mache es nur, um mit mir in Frieden zu sein." In einer anderen Partie wies er sein Team an, absichtlich den Ausgleichstreffer zu kassieren, weil Leeds die Führung erzielt hatte, als ein gegnerischer Spieler verletzt auf dem Boden lag. Es war ein weiterer Akt der Aufrichtigkeit in der Vita des Wahnsinnigen: Als Espanyol Barcelona 1998 die Trennung von Trainer Bielsa als "einvernehmlich" darstellte, korrigierte er den Klub öffentlich. Er bestehe darauf, entlassen worden zu sein: "Ich ziehe den Misskredit der Lüge vor."

Kurz danach wurde er Argentiniens Nationalcoach - und scheiterte. Mit dem offensiven, kraftraubenden Stil, der Bielsas Teams prägt, schied Argentinien bei der WM 2002 in der ersten Runde aus. Seither sagen viele Argentinier, "dass ich Rauch verkaufe", sagt Bielsa. Es gebe nur einen Weg, das zu kontern: alle Spiele zu gewinnen. Unmöglich? Klar! Aber Bielsa sei "ein Träumer, der sich gegen Zufall, Logik und Unwägbarkeiten stellt", sagt Bruder Rafael. "Er versucht, Newton abzuschaffen", sei imstande, eine Feder so lange in der Luft zu halten, bis der Nacken schmerzt - und sie doch zu Boden sinke. Die Gesetze der Schwerkraft gelten immer noch.

Allerdings: Leeds United ist erstklassig, obwohl es Menschen in England gab, die das physikalisch für unmöglich hielten. Bis Marcelo Bielsa kam.

© SZ vom 20.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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