Lance Armstrong:Ein Kannibale ist niemals satt

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Auch auf der Königsetappe ist Lance Armstrong nur der Tagessieg gut genug. Andreas Klöden sah zunächst wie der sichere Sieger aus, als ihn der Texaner auf dem Zielstrich noch überspurtete.

Von Andreas Burkert

Le Grand Bornand - "Noch eine Frage", sagt der Pressechef der Tour de France, und im klimatisierten Interviewwagen hinter dem Ziel von Le Grand Bornand richtet dann jemand vorsichtig die Frage an Lance Armstrong, ob er der neue Kannibale des Radsports sei. Als beinahe unmenschlicher Gierhals wurde zu Beginn der 70er Jahre der große Belgier Eddy Merckx empfunden, er überließ seinen Arbeitskollegen nicht einmal die erste Position beim Gang zum Büffet. "Ob ich der neue Kannibale bin?", fragt der Texaner zurück.

Endspurt auf den letzten Metern: Kannibale frisst Armstrong Klödens Vorsprung. (Foto: Foto: AP)

Er spielt auf Zeit, überlegt sich seine Antwort sehr genau und gibt dann ein Statement in eigener Sache ab: "Nein, ich bin kein Kannibale", sagt er, "aber als ich auf dem Podium stand, dachte ich: ,Perfekt!' Es gibt dieses Jahr eben keine Geschenke, die Tour de France ist das schwerste Radrennen der Welt, und ich habe hier oft genug Geschenke verteilt."

Es ist - siehe den Fall Voigt - in diesen Tagen sehr viel über Sportlergesten diskutiert worden, doch Lance Armstrong interessieren solche Diskussionen wenig. Er wird in diesem Jahr als erster Mensch überhaupt die Tour zum sechsten Mal gewinnen, und er ist offenbar gewillt, dies in jeder Hinsicht eindrucksvoll zu tun. Und so sprintete der Amerikaner im Gelben Trikot auch auf dem 18.Abschnitt um den Tagessieg - und gewann, hauchdünn vor Andreas Klöden.

"Die Enttäuschung ist gar nicht zu beschreiben"

Der Texaner hat damit alle drei Alpenetappen für sich entschieden, das gelang vor ihm noch keinem. Ein Meter fehlte Klöden im Finish der vier Spitzenkräfte zu seinem ersten Etappenerfolg, Platz drei belegte Jan Ullrich vor dem Gesamtzweiten Ivan Basso aus Italien, dahinter folgte Armstrongs treuer Kamerad Floyd Landis. Damit machte Klöden immerhin zwölf Sekunden auf den Italiener gut und Ullrich deren acht. Während der Deutsche Meister im Klassement also nur noch 1:12 Minuten auf Basso fehlen, bleibt Ullrich mit 3:59 Minuten Rückstand auf den Mann aus Varese in einer schwierigen Position im Kampf um einen Podestplatz.

Im hübschen Alpenort Le Grand Bornand mussten Ullrich und sein Freund Klöden allerdings erst einmal Armstrongs Gier nach Siegen verdauen. Klöden gelang das weniger gut, er hatte nach seinem Angriff knapp einen Kilometer vor dem Ziel fast wie der sichere Gewinner ausgesehen. Doch Klöden schaute sich ein paar Mal verräterisch um nach seinen Verfolgern, und Armstrong reagierte auf diese Unsicherheit mit einem bemerkenswerten Spurt inklusive Tigersprung. "Die Enttäuschung ist gar nicht zu beschreiben", sagte Klöden später, "früher nannte man den Merckx einen Kannibalen, und Lance hätte heute vielleicht ein paar Tritte auslassen können."

Ullrich fühlte mit seinem Teamkollegen, dem er bei dessen Attacke mit Passivität seine Loyalität bezeugt hatte. "Ich hätte es dem Andreas heute von Herzen gegönnt, ich bin ja heute auch etwas für ihn gefahren", äußerte der Rostocker, "aber Lance war wieder einmal zu stark - und wenn er der Beste ist, soll er gewinnen."

"Mann des Tages"

Die letzte Touretappe im Hochgebirge hatte zunächst ihren erwarteten Verlauf genommen. Außenseiter gingen auf große Fahrt, Leute wie der bislang enttäuschende Giro-Zweite Gilberto Simoni. Und natürlich machte sich bald auch Richard Virenque davon, der Führende in der Bergwertung schloss noch vor dem Col de la Madeleine zu einem Fluchtquartett auf und sicherte sich als Zweiter auf dem Gipfel vorzeitig - und zum siebten Mal insgesamt - den Gewinn der Spezialwertung. Vorne befand sich zunächst auch der Westfale Rolf Aldag, der seine zahlreichen Sturzverletzungen fast kuriert hat und sich gleich wieder in den Dienst der Mannschaft stellte. Im Finale fehlte Aldag dann aber, was bei seinem Zustand nicht weiter verwunderte.

Die Männer für die Gesamtwertung (von denen der Spanier Roberto Heras nicht mehr antrat) hatten sich also ihre Kräfte für den letzten der fünf schweren Anstiege aufgespart. Die Initiative übernahm am Col de la Croix Fry (1477 m) etwas überraschend Bjarne Riis' CSC-Crew. Zunächst schickte der dänische Teamchef seinen Spitzenmann Ivan Basso und dessen Edelhelfer Carlos Sastre auf die Reise, doch US Postal kontrollierte souverän - Armstrongs Mann Landis fuhr die Lücke rasch zu und erklärte ihn hinterher zum "Mann des Tages". Deshalb habe er ihm am Ende auch zum Etappenerfolg verhelfen wollen.

Doch Landis' Offensive in der Abfahrt konterte Ullrich, und bald darauf kämpfte sich Armstrong an die beiden heran. Das Trio funktionierte allerdings zur Enttäuschung des Deutschen nicht, denn die Amerikaner blieben passiv. Jan Ullrich freilich auch, er begründete das anschließend mit dem Gegenwind. "Und außerdem", fügte er hinzu, "hatte ich heute den Eindruck, dass Lance und Basso eine Absprache hatten." Der Italiener fuhr also mit seinem Bewacher Andreas Klöden wieder heran, und etwas später bekam Lance Armstrong plötzlich sehr großen Hunger.

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