Kunstrad-Fahren:Herr des Handstands

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1,78 Meter, kein Fett zu sehen. Nur Muskeln und Sehnen. Und er hat gar keinen Ernährungsplan. "Ich esse jeden Morgen nur ganz viel Obst", sagt Kohl. (Foto: Rudel/imago)

Weltmeister Lukas Kohl beherrscht Kunststücke, zu denen auf der Welt sonst niemand in der Lage ist.

Von Stefan Brunner

"Du hast deine Flasche?", ruft Andrea Kohl durchs Treppenhaus. "Nein, noch nicht", antwortet Lukas seiner Mutter. Sie eilt in die Küche, füllt einen Anderthalb-Liter-Behälter mit Wasser, lässt ein paar Löffel Mineralstoffpulver hineinrieseln, Kirschgeschmack, "mit den Dopingrichtlinien abgeglichen", wie sie betont. Verrührt, zugedreht und rein in die Sporttasche. Das teure Fahrrad liegt schon im Kofferraum, das Auto ist startklar, ab geht es aus dem oberfränkischen Ort Ebermannstadt ins nahe Kirchehrenbach. Dort steht die Turnhalle, in der der Kunstrad-Weltmeister Lukas Kohl trainiert. Im vorigen Jahr hat er den Titel in Stuttgart gewonnen, da war er 20.

Wie die Mechanik seines 3000 Euro teuren Spezial-Bikes, so greifen auch die Rädchen der Familienlogistik ineinander. Wenn die Mutter, Rektorin einer Grund- und Mittelschule, um 16.40 Uhr nach Hause kommt, bleiben fünf Minuten, um fertig zu werden. Abkürzungen, Schleichwege durch den Wald, nur so schafft es Lukas Kohl pünktlich zum Training. Er braucht diese Präzision, die Punktlandung, wie in seiner fünfminütigen Kür, in der er laut Reglement 30 Übungen zu fahren hat, nicht mehr und nicht weniger. Sonst ahnden es die Punktrichter.

Am Sonntag waren sie mal wieder sehr zufrieden mit ihm, sie gaben ihm 205,19 Punkte und zur Belohnung den Titel des bayerischen Meisters.

Seit zwölf Jahren wirbelt Lukas Kohl auf dem Kunstrad. "Nur vier Wochenenden im Jahr sind kunstradfrei", sagt er. 2010 wurde er deutscher Schüler-Meister, 2014 Junioren-Europameister und 2016 Weltmeister in der so genannten Elite-Klasse. 35 Pokale stehen in seinem Zimmer, daneben liegen eine Menge Medaillen. Belohnung in einem Sport, für den es nicht einmal eine eigene Kollektion gibt. Lukas Kohl trägt im Training eine schwarze Gymnastikhose, dazu ein rotes Funktionsshirt. Lediglich die Gymnastikschuhe sind auf die Rad-Akrobatik abgestimmt, haben quer verlaufende Rillen auf der Sohle, für den besonderen Halt auf Lenker und Sattel. Sein Körper ist durchtrainiert, 1,78 Meter, kein Fett zu sehen, nur Muskeln, Sehnen. Und dabei hat er gar keinen Ernährungsplan. "Ich esse einfach jeden Morgen ganz viel Obst", sagt er.

Aufs Aufwärmen folgt im Training das Warmfahren, dann die Wettkampf-Kür: fünf Minuten Konzentration, Kraft, Koordination. Fünf Minuten, in denen für das ungeschulte Auge die Physik scheinbar außer Kraft gesetzt ist. Kohl, der Präzise, Abitur mit 1,6, angehender Wirtschaftsingenieur, bewegt sich, als gäbe ein 3D-Drucker die exakten Figuren vor. Drehungen, Sprünge, Steiger, Handstände. Sein Programm hatte bei der bayerischen Meisterschaft den höchsten Schwierigkeitsgrad. Gefahren wird nur ein Durchgang. Dann gilt es.

"Wer unseren Sport nicht kennt, der staunt, wenn er uns einmal live erlebt", sagt Lukas Kohl, obwohl ihm Eigenlob gar nicht liegt. Doch noch immer muss sich dieser Sport behaupten. Er ist nicht olympisch und selbst im eigenen Verband ist sein Stellenwert unklar. Wie Lukas Kohl weiß, besuchte Michael Cookson, Präsident der Union Cycliste Internationale, im vergangenen Jahr zum ersten Mal eine Kunstrad-WM. Seitdem reist allerdings auch er begeistert zu den Wettkämpfen, zuletzt zur Junioren-EM, und erlebt eine deutsche Erfolgsgeschichte.

Seit 1964 wurden die Weltmeisterschaften zweimal von einem Schweizer und einmal von einem Tschechen gewonnen, alle anderen 50 Männer-Einer-Titel holten Deutsche. "Wir müssen uns vor keiner anderen Sportart verstecken", sagt Bundestrainer Dieter Maute, selbst fünfmaliger Weltmeister und Namensgeber für eine der schwierigsten Übungen im Kunstradfahren. Kohl erzählt von 2500 Probesprüngen, die er machen musste, bevor er jenen Maute-Sprung - den beidbeinigen Satz vom Sattel auf den Lenker - wettkampftauglich beherrschte; auch jetzt bei der bayerischen Meisterschaft.

Zurück in die Trainingshalle. Kohl schnauft, schwitzt. "Beim Drehsprung hättest du dich etwas weiter über den Lenker beugen müssen und der Kehrstandsteiger war ein wenig schief", sagt seine Trainerin. Seine Trainerin, das ist seine Mutter, die selbst nie Kunstradfahrerin war. Ihre Expertise hat sie sich autodidaktisch erarbeitet. Von Anfang an saugte sie jede Information auf und schrieb akribisch mit. Die Trainer unterstützten sie. Heute analysiert sie Lukas' Übungen, korrigiert, gibt Videofeedback oder schraubt mit einem 17er-Schlüssel an seinem Rad. Sie sagt: "So einen Steuerkopf mit seinen sensiblen Industriekugellagern kann ich schon wechseln."

Alle helfen mit. Das spart Geld in einer Sportart, die wenig Unterstützung erfährt. Nur bei der German-Masters-Serie gibt es Prämien. Nicht siebenstellige wie bei Golf und Tennis. 50 Euro gibt es für Platz eins - was nicht einmal für ein anständiges Siegeressen mit den Eltern reicht.

Dank einer Mischfinanzierung kann Kohl seinen Sport betreiben: Das Fahrrad mit Alurahmen und Karbonfelgen, auch das Ersatzrad, stellt der Verein; Ketten, Reifen und andere Ersatzteile bekommt er vom Fahrradhersteller. Eine Transportfirma und die Stadtwerke schießen etwas zu. Und ein Physiotherapeut unterstützt mit Leistung. Den größten Anteil, vor allem für Reisen und Übernachtungen, übernehmen indes die Eltern. "10 000 Euro sind das bestimmt im Jahr", schätzt Kohl. Preisgünstig nahm sich da die bayerische Meisterschaft aus. Sie war in Forchheim, was mit dem Rad zu erreichen ist. Und die Konkurrenz? Er musste sich nur gegen Martin Fürsattel vom RSV Fürth-Vach durchsetzen, der nach einem Sturz auf Platz zwei landete, weit abgeschlagen. Kein anderer außer Kohl, weder in Bayern, noch auf der Welt, meistert in einer Kür beide Handstand-Übungen in der so genannten deutschen Variante: Die Beine zusammen und durchgehend gestreckt.

Koordinative Bravourstücke sind das, fährt das Kunstrad doch unter dem 68-Kilo-Akrobaten ohne Unterlass weiter, sauber auf einer Kreisbahn, präzise wie der gesamte Mensch. Die Zuschauer in Feucht staunten mal wieder.

© SZ vom 26.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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