Kunst der Verdrängung:Die Wade der Nation

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Michael Ballack glaubt, dass er gegen Costa Rica spielen kann - aber seine Blessur ist hartnäckig.

Ludger Schulze

Auf die Frage nach Weltklassespielern im deutschen WM-Aufgebot hat Franz Beckenbauer vor Monaten definitiv und mit barschem Realitätssinn verfügt: "Oliver Kahn und Michael Ballack, alle anderen sind austauschbar."

WM-Wahnsinn: Michael Ballack auf der täglichen Pressekonferenz der deutschen Mannschaft. (Foto: Foto: dpa)

Auf Beschluss der obersten Fußball-Leitung unter Jürgen Klinsmann wird der Münchner Torwart seine außerordentlichen Fähigkeiten während des Turniers nur in sitzender Position demonstrieren können, Weltklassespieler Nummer eins ist zum Einsatz als Bankdrücker verdonnert worden. An der Nummer zwei aus der Kategorie "besonders wertvoll" allein scheint also die unmittelbare Zukunft Fußball-Deutschlands zu hängen, wenigstens die der kommenden Tage.

Für Michael Ballack, einen Vertreter der streng lakonischen Ausrichtung, stellt ein derart hohes Anforderungsprofil keine wesentlich größere Herausforderung als das tägliche Aufstehen, Duschen oder Zähneputzen dar. "Och", sagt der gebürtige Sachse gerne auf entsprechende Anfragen, "Druck? Ich kenne das ja schon seit einigen Jahren." Womit schon alles gesagt wäre, außer vielleicht noch, dass Ballack "gut Fußball spielen und Verantwortung übernehmen will".

Die Kunst der Verdrängung ist eine hilfreiche Gabe, andernfalls müsste Michael Ballack unter erheblichen Schlafschwierigkeiten leiden. Denn er soll es richten: die Mannschaft als Kapitän führen, als Abwehrstratege die Defensive organisieren, als Vorbereiter Passgeber sein, nach Klinsmannscher Diktion gleichermaßen vertikal wie horizontal, und ganz vorne als Torjäger die Bälle eintüten ins Netz.

Mit rechts, mit links und auch per Kopf. Immerhin wurde die Rolle des Ballfängers ganz hinten anderweitig besetzt mit dem 36 Jahre alten Jens Lehmann. Wenn Bundestrainer Jürgen Klinsmann der Projektleiter des Plans Weltmeister 2006 ist, dann ist Michael Ballack der ausführende Manager. Und wenn der entscheidende Mann des Projekts nicht bei Kräften ist, dann ist auch der Erfolg des gesamten Projekts gefährdet.

Die Bedeutung einer Wade

Michael Ballack, 29, ist verletzt. Keine schlimme Sache, so eine Wadenverhärtung mit kleinem Bluterguss, wäre Ballack denn Briefträger, Automechaniker oder Programmierer. Ballack aber ist Fußballer, und für diesen Berufsstand hat so eine Wade geradezu essentielle Bedeutung.

Wer am Bein behindert ist, der läuft nicht rund. Begonnen hat die jüngste Krankengeschichte nach dem Testspiel gegen Kolumbien (3:0) am vergangenen Freitag, als Ballack einen Schlag gegen die Muskulatur bekam. Die freien Tage über das Wochenende verbrachte er am Starnberger See mit der Familie, erst bei der Ankunft der Mannschaft am Montag in Berlin wurde die Ernsthaftigkeit des Problems erkannt.

Danach widmete sich die medizinische Abteilung unter "Bayern-Doc" Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt fieberhaft und hingebungsvoll dem lädierten Körperteil des Nationalhelden in spe. Bedauerlicherweise erwies sich die Wade als wenig einsichtsvoll gegenüber den deutschen WM-Hoffnungen und zwang Ballack zu einer Trainingspause.

Der sieht sich nun mit einer "hartnäckigen" Blessur konfrontiert, vertraut aber darauf, dass genannte medizinische Abteilung das "schon in den Griff bekommen" werde. Er gehe jedenfalls davon aus, "dass ich spielen werde" im Eröffnungsspiel am Freitag gegen Costa Rica in München (18 Uhr).

Das glaubt auch der Trainerstab, für den stellvertretend gestern Assistenztrainer Joachim Löw vor die Presse trat. Löw war sehr bemüht, die Angelegenheit auf kleiner Flamme zu köcheln; aber gerade weil seine Auslassungen so sorglos klingen sollten, ist offenbar Anlass zur Besorgnis gegeben.

"Michael ist ein stabiler Spieler", erklärte er, eine solche Verletzung sei mehr oder minder normal für einen Spieler, der keinem Zweikampf aus dem Wege gehe und "oft nur durch Fouls und unlautere Mittel zu stoppen" ist. Ballack ist tatsächlich kein Spieler, dessen Karriere von gravierenden Verletzungen torpediert wurde, wenn man von einem Knorpelschaden im Alter von 16Jahren absieht.

Doch in den vergangenen Jahren mehrten sich die kleinen, lästigen Geschichten wie Zerrungen, Prellungen oder Verhärtungen. In der Rückrunde plagte sich Ballack noch im Bayern-Trikot mit einer schmerzhaften Schambeinentzündung, und während der unmittelbaren WM-Vorbereitung in Genf erlitt er einen Minimalschaden im Sprunggelenk des linken Knöchels.

"Most valuable invalid" der WM-Geschichte

Solcherlei Malaisen sind nicht unbekannt für Ballack, vor und während der WM 2002 in Japan und Südkorea plagte er sich mit einer Kombination aus Waden- und Sprunggelenksproblemen herum. Zeitweise war er sogar außerstande, mit dem rechten Fuß zu flanken, was ihn allerdings nicht daran hinderte, die Bälle dennoch mit verblüffender Präzision auf dem Kopf von Miroslav Klose zu platzieren, nur halt mit dem linken Bein.

Und trotz der Beeinträchtigung schoss Ballack beinahe alle entscheidenden Tore für das spätere Final-Team. Am Ende des Turniers hätte er eine Auszeichnung als "most valuable invalid" der Weltmeisterschafts-Geschichte verdient gehabt.

Das möge die Wade gemeinsam mit der medizinischen Abteilung diesmal verhindern. Wäre auch mehr als schade, zumal Michael Ballack und seine Kollegen nach Aussage von Joachim Löw bestens präpariert in das Münchner Spiel gegen Costa Rica gehen.

Nach einer Filmvorführung wissen sie nun, dass die Südamerikaner nicht nur ein gefährlicher Gegner sind, sondern auch aus einem sehr kleinen Land stammen. Die kleine Erdkundestunde über Mentalität und Kultur Costa Ricas war nämlich in drei Minuten erledigt.

© SZ vom 7.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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