Kommentar:Verstoßene Reformer

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Im neu zusammengestellten IAAF-Führungszirkel wird die Stimme der Deutschen fehlen. Das ist für beide Seiten - DLV und Weltverband - misslich.

Von Michael Gernandt

Seit sechs Jahren weiß die deutsche Leichtathletik wieder, was es bedeutet, unter mehr als 200 Ländern der Welt die vierte Kraft zu sein, mitzudrehen am großen Rad dieses Sports. Mitte bis fast zum Ende der Nullerjahre war sie schließlich bei den internationalen Championaten eher unauffällig gewesen, zu vernehmen damals allein außerhalb der Stadien. In den gut temperierten Konferenzsälen, in denen der Vorstand des internationalen Leichtathletik-Verbands IAAF zu tagen pflegt, nahm der professorale schwäbische Querdenker Helmut Digel gern Einfluss.

Im neu zusammengestellten IAAF- Führungszirkel des Diack-Nachfolgers Sebastian Coe wird die Stimme der Deut-schen nun aber fehlen. Digel hat sich nach 20 Jahren zurückgezogen und Clemens Prokop seinen Sitz mangels Vertrauen der Delegierten nicht übernehmen dürfen. Dass der deutsche Vorstandskandidat scheiterte, ist, wegen der Höhe seiner Niederlage, zunächst mal peinlich für ihn selbst. Der Chef des deutschen Verbands DLV hat schlichtweg sein internationales Renommee falsch eingeschätzt. Hierzulande gilt Prokop wegen seiner strengen Anti-Doping-Haltung schon als sportpolitische Größe und in Europa dank der Qualität der DLV-Sportler und des Veranstaltungspotentials des DLV als willkommener Partner. Bei der Mehrheit des Stimmvolks aus Übersee jedoch, aus Kleinstaaten wie Antigua und Tonga, heißt es hingegen vermutlich nur: Clemens, who?

Schwerer als Prokops Handicap wiegt indes: Die Deutschen werden künftig in dem Gremium, das versuchen muss, die derzeit chaotischen Zustände in der IAAF abzustellen und das durch Doping- und Korruptionsfälle verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen, nicht direkt mitreden und mitbestimmen können. Das sollte die IAAF eigentlich bedauern, alldieweil in Deutschland brauchbare Reformideen bereits entwickelt wurden. Vor allem auch zur Dopingabwehr.

Apropos Doping. Nicht auszuschließen, dass Prokop auch über dieses Thema gestolpert ist. Hat ihn das traditionell konservative IAAF-Plenum nicht gewählt, weil er mit Hilfe eines nationalen AntiDoping-Gesetzes Sportbetrüger ins Gefängnis bringen will, ein für die Diacks, Coes und Bachs dieser Welt unzumutbarer Schritt? Oder sollte ihm eins ausgewischt werden, weil es deutsche Medien waren, die mit ihren Enthüllungen die Abwehrmaßnahmen des Weltverbands gegen die Seuche als naiv und oberflächlich bloßgestellt haben?

Am Ende könnte es so sein, wie Clemens Prokop selbst die Pekinger Niederlage zu deuten versuchte: Als Ausdruck des Überdrusses "deutscher Oberlehrerhaftigkeit" in internationalen Gremien wie der IAAF und der Neigung, "Maßstäbe in Ethik setzen zu wollen".

© SZ vom 20.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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