Kommentar:Nur ein Asket im Olymp

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Es wird vielleicht wie ein olympischer PR-Gag ausschauen, wenn Jacques Rogge ins Athletendorf von Athen umzieht. Aber dass er das Fünf-Sterne-Domizil der olympischen Familie für die Dauer der Wettkämpfe fliehen werde, hat Rogge bereits 2001 bei seinem Amtsantritt als IOC-Präsident angekündigt.

Von Thomas Kistner

Nun sucht er, bei seinen ersten Sommerspielen als Chef, den Abstand zur eitlen Hofschar - ideell ist er schon auf Distanz gegangen. Der belgische Arzt, der gern selbst jedes Flugticket seiner Party-erprobten Mitglieder prüft, verfolgt das Ziel, die Weltsport-Sause vor einer Zukunft zu bewahren, deren Abgründe sich in Athen bereits auftun. Weil aber seherisches Gespür nicht jedem gegeben ist im Taumel immer neuer Umsatzrekorde, ist Rogge vorläufig ein einsamer Asket im Olymp. Das wird sich ändern.

Schon vor dem Beginn haben die Athener Spiele nichts Spielerisches, sie zeigen sich als internationale Gefängnismeisterschaft, kompromisslos organisiert. Das Sportfest muss geschützt werden zu Wasser und zu Land und selbst noch in der Kanalisation, es wird belauscht von Antennen, die in jedes Handy hineinkriechen.

Alles ist im Visier hunderter Kameras, und wer auf ein Bier ins Deutsche Haus will, wird überprüft wie ein kleiner Hoteldieb, Fingerabdrücke inclusive. Da wiegt schwer, dass dem Krieg-der-Ringe-Szenario auch noch ein neuer, inquisitorischer Geist innewohnt: Rogges IOC versucht sich zu befreien von einer Vergangenheit, in der Athleten und Spiele zum Objekt von Pharmabetrügern und Geschäftemachern wurden.

Dass viele, zu viele Günstlinge von gestern weiter im Zentrum der Bewegung rumoren, hat vor Tagen erst die Suspendierung eines IOC-Mitglieds und von vier Städteberatern gezeigt. Das war nur der Anfang des neuen Roggeschen Revirements. Eine Säuberungsaktion gab es zwar schon unter Rogges Vorgänger, dem spanischen Bankenchef Samaranch.

Ethisches Vakuum

Doch der wollte nur die rissige Fassade kitten; ihm blieb keine Wahl, weil das FBI ermittelte. Tatsächlich war es ja Samaranch selbst, der die schlimmsten Figuren ins IOC geschleust hat, das ihm zwei Jahrzehnte lang so untertan war wie einst Spanien dem Caudillo Franco, Samaranchs Freund.

Das ethische Vakuum dieser Ära ist nicht nur an vielen kriminellen Sportfunktionären und Agenten festzumachen, die in Seoul oder Sofia einsaßen, in Jakarta oder Paris. Es zeigt sich an einer Betrugsform, die außer Kontrolle geraten ist und den Sport in Athen erstmals unter Generalverdacht stellt: Doping.

Dass bei der Eröffnungsfeier heute Abend Kolonnen mutmaßlicher Pharmabetrüger ins Olympiastadion einziehen, von Amerikas patriotisch getunten Medaillen-Kommandos bis hin zum mysteriösen griechischen Supersprinter Kenteris, der überall außerhalb der Heimat Buhrufe erntet - das war immer so. Es wurde jedoch übertüncht.

Nun lässt der Mediziner Rogge das größte Kontrollprogramm aller Zeiten auflegen, 3000 Dopingtests für zehntausend Athleten; ein Boom an Betrugsfällen ist zu erwarten. Da aber die modernsten (sprich: berühmten und reichen) Doper nicht zu erwischen sind mit der herkömmlichen Analytik, hat ein großes Pokerspiel begonnen.

Das IOC verrät nicht mehr, welche Mittel es finden kann, das schafft enorme Unruhe in Athen: Wird hier erstmals auf das Wachstumshormon getestet, das Muskeln, Kiefer, Extremitäten anschwellen lässt? Richard Pound, Chef der Antidoping-Weltagentur Wada, sagte, er sei gespannt, wer kurz vor den Spielen noch absagt, und schürte so das Verdachtsklima.

Die Sponsoren - von der Doping-Welle überrascht

Erste Absagen liegen vor, ausgerechnet Amerikas Tennis-Walküren Serena Williams und Jennifer Capriati schwächeln plötzlich. Ihr Landsmann Lance Armstrong, ein Unsterblicher im Radsattel, hat schon vor Beginn der Tour de France abgesagt - wer das in Zusammenhang sieht mit dem Umstand, dass sich der Radsportverband nach der Tour den strikten Testregeln unterwarf, dem steht dies frei.

Auch mancher Sponsor wird von der neuen Welle überrascht: Dass etwa Torri Edwards gedopt aus dem Verkehr gezogen wurde, kam für ihren Ausrüster so überraschend, dass die Amerikanerin immer noch über dessen Werbeleinwand sprintet.

Das alles ist nur ein Anfang. Doch immerhin kann, wer die olympische Reinigungsoffensive begrüßt, schon mal über die Schwimmhelden von Athen nachdenken, deren Unterkiefer die Ausmaße von Wellenbrechern haben.

Zu alledem passt, dass Athen kein Publikumsrenner ist. Es ist nur die Hälfte der 5,3 Millionen Tickets verkauft, Ministerpräsident Karamanlis appellierte gar an seine Landsleute, die Stadien zu füllen.

Dass die Griechen es dank ihrer Last-Minute-Organisation selbst verbummelt haben, hunderttausende Besucher mehr ins Land zu locken, ist noch die mildeste Erklärung. Sonst bliebe die Angst vor dem Terror übrig, der in Athen mit einem irrwitzigen Sicherheitsaufwand von 1,5 Milliarden Euro in Schach gehalten wird.

Oder zeigt sich da schon der Abkehrschwung von einem Spektakel, das Betrug zum Systemzwang erhoben und sich selbst überreizt hat? Es wird von allem etwas sein. Start frei für Olympia, Start frei für den einsamen Asketen im Olympischen Dorf.

© SZ vom 13.08.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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