Kommentar:Müller bleibt unentbehrlich

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Es ist auffallend, dass in den wichtigen Spielen und gegen die schwierigen Gegner die eigenen Treffer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ein auffallend rares Gut sind. Daran ändert auch der Kader von fähigen Nachwuchsspielern wenig.

Von Philipp Selldorf

Bei der Nationalmannschaft wird traditionell schon im November mit der Jahresinventur begonnen, die ersten Stellungnahmen haben ergeben, dass man mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden sein darf. Mats Hummels' Resümee, dass "es ein gutes, aber kein herausragendes Jahr" gewesen sei, lässt sich als repräsentative Meinungsäußerung verstehen. Die Ansprüche sind maximal im Weltmeisterland, das Aus im Halbfinale der Europameisterschaft, auch wenn es tendenziell unglücklich war, wird als anhaltende Enttäuschung aufgefasst. Man habe sich mehr erhofft, aber "einfach nicht das Ergebnis geliefert", sagte Thomas Müller.

Der Makel, den Müller angesprochen hat, ist untrennbar mit ihm selbst verbunden. Die Nationalmannschaft war, um es rigoros zu formulieren, im Jahr 2016 besser als ihr planmäßiger Torjäger. In 15 Länderspieleinsätzen gelangen ihm fünf Tore, das ist auf den ersten Blick keine üble Bilanz, aber die Treffer entfallen auf lediglich drei Partien: auf das Testspiel gegen Ungarn im Mai sowie auf die beiden WM-Qualifikationsspiele gegen Norwegen und Tschechien nach der Sommerpause. Zwölf Mal hingegen gab es keines der seit 2010 lieb gewonnenen Müller-Tore, wie konnte das diesem Mann passieren, der all die Jahre ein Naturwunder von Fußballer war?

Gegen die wirklich guten Gegner sind Tore ein zu rares Gut

Am Dienstagabend in Mailand gab es auf diese Frage eine mittlerweile typische Antwort. Müller bekam kurz vor dem Halbzeitpfiff den Ball an der Strafraumkante, 1-a-Lage, freie Sicht aufs Ziel. Müller schießt - und scheitert an einem Verteidiger mit dem herrlichen Namen Zappacosta. So was passiert selbstredend jedem Torjäger mal, aber es passierte zu oft in diesem Jahr, als dass man die verpassten Treffer noch für temporär halten möchte. Daher geht aus der Inventur 2016 auch der dringende Wunsch hervor, dass Müllers Beklemmungen bald ein Ende nehmen möchten.

Es ist zwar alles richtig, was derzeit Gutes über das Nationalteam gesagt wird: Dass sich die Mannschaft kaum retten kann vor all den Talenten mit hohem Niveau; dass die gestandenen Stars in der laufenden WM-Qualifikations-Kampagne mit verschärftem Engagement und Sinn für die Details die richtigen Lehren gezogen haben aus der verschluderten Phase nach dem WM-Gewinn 2014; und dass die Defensive - zuletzt sechsmal gegentorlos - ein Beispiel höchster Funktionstüchtigkeit abgibt.

Aber es ist auch so, dass in den wichtigen Spielen und gegen die schwierigen Gegner die eigenen Treffer ein auffallend rares Gut sind. Man hat das gegen Polen, Italien und Frankreich bei der EM gesehen, und mit Abstrichen auch am Dienstag in San Siro. Dieser Mangel hat natürlich mit Thomas Müller und dessen prekärer Phase zu tun, aber auch mit einem Umstand, für den der arme Müller nun wirklich nichts kann: Dass unter all den Neulingen kein neuer Torjäger zu finden ist. So bleibt Müller auch 2017 jederzeit unentbehrlich.

© SZ vom 17.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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