Videobeweis:Wenn die "Sportschau" zum Jura-Seminar mutiert

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Der Videobeweis stellt nicht nur Profis und Stadionbesucher vor Herausfordungen, er bietet auch dem TV-Zuschauer ein geändertes Programm.

Von Klaus Hoeltzenbein

Dieter Hecking ist jetzt der Senior unter den deutschen Trainern in der Bundesliga und er nimmt diese Rolle an. Schon im Frühsommer löste der 52-Jährige eine Fairness-Debatte aus, entwickelte eine Art Knigge für seine Zunft, darin enthalten dieses Vorhaben: "... dass ich versuche, den Schiedsrichter zu akzeptieren, auch wenn er Fehler macht". Damals war man versucht, ein leises "Amen" hinterherzuhauchen.

Heute scheint die Botschaft aktueller denn je zu sein, und der Trainer von Borussia Mönchengladbach hat sie deshalb am Samstag erweitert: Hecking fordert, dass die 100-Tage-Frist, die Politikern eingeräumt wird, auch für eine technische Revolution wie den Videobeweis gelten müsse. Und damit für jene, die auf dem Rasen pfeifen, sowie deren Kollegen in der Schaltzentrale in Köln, die den Pfiff am Bildschirm bestätigen oder korrigieren. Hecking ist sich sicher, dass in hundert Tagen alle Probleme zu lösen sind, und "wir alle die Gerechtigkeit erfahren, die wir uns davon erhoffen". Ein weises Wort.

Doch diese nun schon nicht mehr hundert Tage dürften spannend und kontrovers werden. Am zweiten Spieltag waren zwar die technischen Probleme des ersten behoben, das Funksignal aus Köln zu allen Schauplätzen funktionierte, dafür häuften sich die praktischen Herausforderungen. Das geteilte Echo wurde von zwei Stimmen repräsentiert. Einerseits von Rudi Völler, der zornbebend die Kölner Schaltzentrale ("vorm Fernseher eingeschlafen!") attackierte; Leverkusens Sportchef hatte wie manch anderer - aber eben nicht alle! - ein Foulspiel vor dem 2:2-Ausgleich der Hoffenheimer entdeckt.

Andererseits von Kevin-Prince Boateng, dem Frankfurter war ein vom Platz-Schiedsrichter zugesprochener Elfmeter auf höchstrichterliche Weisung aus Köln wieder aberkannt worden. "Dafür sind Video-Schiedsrichter da", sagte Boateng lapidar trotz 0:1-Niederlage. Womit er stellvertretend für jenen Fatalismus steht, mit dem Profis meist schnell auf Regeländerungen reagieren. Mit der Anpassungsfähigkeit des Chamäleons bewegen sie sich haarscharf an jenen Grenzen entlang, die ihnen gezogen werden.

Eigentlich könnte doch auch das Publikum zu Hause entscheiden

Dennoch brauchen komplexe Veränderungen Zeit. Mancherorts hat das Publikum deshalb gemurrt, weil es sehr lange dauerte, bis die Nachricht aus Köln auf dem Headset des Schiedsrichters eintraf. Umstellen müssen sich aber nicht nur Stadionbesucher, auch die Fernsehzuschauer sind gefordert. Ohnehin brauchen diese in der neuen Saison einen Medienkompass, um das lizenzierte Programm zu finden. Haben sie es, dann kommt nix, oder nur eine Störmeldung wie bei Eurosport, dem neuen Exklusivanbieter für den Freitagabend. Von der als sensationell empfundenen Tabellenführung des Hamburger SV - wenn auch nur für diese eine Nacht - war live, wenn überhaupt, nur in den Tiefen des Darknets was zu finden.

Auch wer weiterhin die Kompaktklasse bevorzugt, die Alle-Spiele-alle-Tore-"Sportschau", sieht sich genötigt, seine Sehgewohnheiten umzustellen. Diese Sendung lappt plötzlich schwer ins juristische Fach, sie mutiert zu einer Variante des ARD-Klassikers "Das Fernsehgericht tagt". Fußball gespielt wird nebenbei, verdichtet dient das Programm dazu, jeden Videobeweis in jedem Stadion aus zig Kameraperspektiven zu überprüfen. Was in der Summe anstrengt, eröffnet dem frisch geschulten Publikum womöglich viele neue Chancen. Zum Beispiel: Bei Live-Spielen könnte die Tor-oder-nicht-Tor-Frage auch per Blitzumfrage vom Wohnzimmer aus entschieden werden.

Sobald also Heckings Hundert-Tage-Frist verstrichen ist, sollte unbedingt über die weitere Demokratisierung des Videobeweises nachgedacht werden. Dass Völler seinen Freistoß von den neuen Sofa-Juristen zugesprochen bekäme, wäre damit aber noch längst nicht garantiert.

© SZ vom 28.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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