Kommentar:Geschichte schießt Tore

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Das Gefühl, diesmal "dran" zu sein, kann in der Champions League den Unterschied ausmachen, und das Phänomen erklärt womöglich auch, warum bisher keinem Champions-League-Sieger die Titelverteidigung gelungen ist.

Von Christof Kneer

Manchmal dauert eine Geschichte auch zu lange, um das ihr angemessene Ende zu finden. Manchmal fängt eine Geschichte bemerkenswert an, aber dann verliert sie irgendwo auf der Strecke ihren Drive und hält sich nicht mehr an den vereinbarten Schluss. Die Geschichte der Champions League hätte vorige Saison ja eigentlich so erzählt werden sollen: Im Berliner Olympiastadion jubeln die Juventus-Profis Andrea Pirlo, Gianluigi Buffon und Andrea Barzagli - an jenem Ort, an dem sie neun Jahre zuvor Weltmeister geworden waren. Pirlo und Buffon zählen zu den ewigen Heiligen der Sportart, und so gesehen wäre das vom Schicksal schon okay gewesen, wenn es die Heiligen hinten raus noch mal belohnt hätte. Aber dann kamen die Geschichtsbanausen aus Barcelona und griffen sich den Pokal - auch, weil Pirlo, Buffon und Barzagli, die nach historischen Kriterien reif für den Titel gewesen wären, am Ende vielleicht doch ein bisschen überreif waren.

Das zeigt, dass eine gute Geschichte alleine noch nicht ausreicht, um die kostbarste Trophäe des Klubfußballs in Besitz zu bringen, aber ein Blick in die jüngste Vergangenheit beweist auch: Eine gute Geschichte erhöht die Chance. Im Jahr vor dem FC Barcelona triumphierte nicht zufällig Real Madrid: Die Elf hatte einen höheren Auftrag, sie jagte wie berauscht La Décima nach, der im Klub so heiß ersehnten zehnten Landesmeister-Trophäe - den Spielern war die Besessenheit in jeder Sekunde anzusehen. Es war dieselbe trotzige Begierde, mit der im Jahr davor der FC Bayern den Titel erbeutet hatte. Die Münchner hatten mehrere Rechnungen offen: Sie forderten Satisfaktion für das verlorene Finale dahoam, und die Generation Lahm-Schweinsteiger-Robben-Ribéry kämpfte mit wildem Enthusiasmus gegen die üble Nachrede, wonach sie einfach keine großen Titel gewinne. Wer Ribéry und Robben damals bis zur eigenen Eckfahne zurückrasen sah, begriff, dass es sich hier um kein präzise einstudiertes Defensivspiel handelte. Was Ribéry und Robben spielten, war Willenspressing.

Die Bayern wollen das Gerede beenden, wonach mit Guardiola immer im Halbfinale Schluss ist

Das Gefühl, diesmal "dran" zu sein, kann in einem ausgeglichenen Teilnehmerfeld den Unterschied ausmachen, und das Phänomen, "dran" zu sein, erklärt womöglich auch, warum bisher keinem Champions-League-Sieger die Titelverteidigung gelungen ist - weil die unterlegenen Teams alte Sehnsüchte mit neuen Revanchegedanken kombinieren und auf diese Weise ein paar Volt mehr an Spannung entwickeln; nicht messbar, aber auf dem Rasen spürbar.

Was das fürs aktuelle Halbfinale bedeutet? Real Madrid hat gerade keinen identitätsstiftenden Auftrag, der Klub vertraut mehr der persönlichen Agenda von Cristiano Ronaldo. Manchester City muss an niemandem Rache nehmen, nichts wiedergutmachen und höchstens seinem Hauptanteilseigner in Abu Dhabi was beweisen. Wer eine überwölbende Geschichte sucht, landet bei Bayern und - vor allem - bei Atlético Madrid. Die Bayern wollen zum Abschluss der Pep-Ära dringend das Gerede beenden, wonach mit Guardiola stets im Halbfinale Schluss ist, ohnehin haben die jüngsten Pressekritiken den Widerspruchsgeist im Klub geweckt. Und Atlético ist finster entschlossen, endlich seine Vergangenheit zu bewältigen: Zweimal fehlte nur eine Minute zum Gewinn des Landesmeistertitels, und die Peiniger von einst sind beide noch im Wettbewerb. 2014 scheiterte Atlético im Finale an Real und 40 Jahre zuvor an einem Fernschuss von Katsche Schwarzenbeck.

© SZ vom 15.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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