Kommentar:Düpiert, lädiert, hinausrotiert

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Etliche Weltmeister 2018 sind derzeit nicht kadertauglich. Joachim Löws Loyalitäts-Reflexe sind zwar intakt - aber sein Angebot an Spielern ist überreich. Für Sentimentalitäten ist da vermutlich kein Platz.

Von Philipp Selldorf

Auch Familie Großkreutz aus Darmstadt bekam am Mittwoch Besuch vom Nikolaus. Leonie, 1, wurde mit Schokoladenwaren und Holzspielzeug beschenkt, und Vater Kevin durfte sich ebenfalls freuen: Auf seiner Instagram-Seite, auf der er die Bescherung dokumentierte, stellte eine Besucherin die angeblich frappierende Ähnlichkeit von Vater und Tochter fest. Die Fans meinen es immer noch gut mit Kevin Großkreutz, obwohl sich dessen Karriereweg zuletzt auf einem Trampelpfad zu verlieren drohte: Erstmals in der Saison musste Großkreutz bei Darmstadt 98 auf der Ersatzbank Platz nehmen, 90 Minuten schaute er beim 0:1 gegen Regensburg zu.

Vor dreieinhalb Jahren in Rio hatte er ebenfalls auf der Bank gesessen, bis ihn Jogi Löw anwies, die Einwechslung vorzubereiten, und so schien Großkreutz' WM-Premiere bevorzustehen - im Endspiel gegen Argentinien. Doch dann erhob sich der vermeintlich irreparabel malträtierte Schweinsteiger vom improvisierten OP-Tisch. Großkreutz setzte sich wieder hin. Die Testpartie gegen denselben Gegner zwei Monate später wurde zu seinem Abschiedsspiel in der Nationalelf.

Hin und wieder ließen gewisse Vorfälle auf Großkreutz' Lebensweg befürchten, dass er am 6. Dezember nicht vom Nikolaus, sondern von Knecht Ruprecht Besuch bekäme. Ein erneutes Einladungsschreiben des Bundestrainers ist deutlich weniger wahrscheinlich. Und so muss Großkreutz den Reservistenplatz in Darmstadt zumindest nicht als Rückschlag seiner WM-Ambitionen für 2018 werten. Das unterscheidet ihn von manchen Kameraden aus Rio, die gerade, ein halbes Jahr vor der Nominierung für die nächste WM, um Anschluss ringen.

Von 23 Brasilien-Weltmeistern sind nur zwei aus dem Fußball ausgeschieden (Lahm, Klose), einer befindet sich im aktiven Vorruhestand (Weidenfeller), drei haben sich vom DFB-Team losgesagt (Podolski, Schweinsteiger, Mertesacker), die übrigen befinden sich im Bewerberstatus. Dabei gibt es Härte- und Sonderfälle.

Jogi Löws Loyalitäts-Reflexe sind intakt - aber sein Angebot an Spielern ist überreich

Erik Durm, dauerverletzt, wird eher an die Wiederherstellung seiner Gesundheit denken als ans Finale in Moskau. Torwart Manuel Neuer, langzeitverletzt, darf darauf vertrauen, dass ihm notfalls bis zum Nominierungsschluss ein Ticket reserviert wird. Benedikt Höwedes wiederum wird sich fragen, warum ihm das Fußballerleben so hinterhältig mitspielt. Im Sommer war er handstreichartig nach Italien geflüchtet, weil er um seinen Stammplatz auf Schalke fürchtete und damit um die Bühne für Empfehlungen an Löw. Mit dem neuen Arbeitgeber Juventus Turin schien er das große Los gezogen zu haben, aber mehr als 68 Minuten gegen Crotone kann er aufgrund von Verletzungen bisher nicht vorweisen. Nach der Premiere gab es jetzt sofort den nächsten Muskelfaserriss. "Noch sechs Monate, und du bist endlich wieder in Gelsenkirchen", rief dem ausgeliehenen Verteidiger ein Schalke-Fan zu - dabei will Höwedes viel lieber nach Sotschi und Moskau.

Jogi Löw ist für Loyalität bekannt, häufig wurde ihm diese ehrenwerte Eigenschaft zum Vorwurf gemacht, weil sie das Leistungsprinzip infrage zu stellen schien. Während der Bundestrainer nun aber alte Getreue wie Zieler, Schürrle und zuletzt Mustafi still vor die Tür rotiert hat, stellen die exponierten Weltmeister Höwedes und Mario Götze sein Auswahlverfahren auf die Probe. Der eine machte sich 2014 im Dauereinsatz verdient, der andere verewigte sich durch das Endspielsiegtor. Dass Götze neulich sein Länderspielcomeback geben durfte, gab zwar zu erkennen, dass Löws alte Loyalitätsreflexe intakt sind. Aber diese Neigung kann er sich in Anbetracht des überreichen Spielerangebots kaum noch leisten.

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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