Kommentar:Die Anatomie der Nummer 1

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Der Tennissport frisst seine Kinder: Rafael Nadal führt auch deshalb die Weltrangliste wieder an, weil Andy Murray wie so viele Topspieler körperliche Beschwerden hatte. Auch bei Jüngeren häufen sich Verschleißerscheinungen.

Von Barbara Klimke

Zahlen sind unbestechlich, und auch der Mythos der Tennis-Weltrangliste gründet auf nichts Geheimnisvollerem als dem kleinen Einmaleins. Es ließ sich also fast an den Fingern einer Hand ablesen, dass vom heutigen Montag an Rafael Nadal wieder die Nummer eins des Rankings übernimmt. Auf der Haben-Seite werden für ihn vier Turniersiege in diesem Jahr verbucht, von denen es für den Triumph bei den French Open, dem zehnten in der glorreichen Karriere des Mallorquiners, besonders viele Punkte anzuhäufeln gab.

Auch wenn jemand partout die höhere Mathematik bemühen wollte, käme er an Rafael Nadal übrigens nicht vorbei: Nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung lag es nahe, dass die Spitzenposition, die Andy Murray verloren hat, nur innerhalb der Großen Vier des Tennis weitergereicht werden konnte. Denn seit der Sandplatzspezialist Nadal vor neun Jahren, nach seinem ersten Rasen-Sieg in Wimbledon 2008, erstmals den Tennis-Thron erklomm, ist die Nummer eins ausschließlich im engsten Zirkel, zwischen ihm, Roger Federer (Schweiz), Novak Djokovic (Serbien) und Murray (Großbritannien) rotiert.

Und dennoch wird man dem derzeitigen Geschehen auf den Tenniscourts nicht gerecht, wenn man nur der reinen Zahlenlogik vertraut und die menschliche Anatomie vergisst. Denn mehr noch als die Weltranglistenpunkte sind es die strapazierten Bänder, Sehnen und Gelenke der Konkurrenz, denen Rafael Nadal seine Spitzenposition in diesem Jahr verdankt. Nur zwei der Besten, er und Federer, haben überhaupt in den Sommerwochen zwischen Wimbledon und den US Open das Racket geschwungen; nur er und Federer konnten also das Punktekonto auffüllen. Andy Murray (Diagnose: Hüftbeschwerden) gönnte seinen müden Knochen stattdessen eine Ruhepause. Für Novak Djokovic (Ellbogen) ist die Saison bereits vorbei, ebenso für Stan Wawrinka aus der Schweiz (Knie) und den Japaner Kei Nishikori (Handgelenk), die beide zu den ärgsten Verfolgern des Ruhmes-Quartetts zählen. Und auch Federer hat kürzlich laut geklagt (Rücken).

Die Saison ist lang und gnadenlos. Das hat Folgen

Es wäre zynisch, dies nur mit Altersbeschwerden zu erklären, weil die vier Besten des Sports jeweils die 30 überschritten haben. Denn bei den Jüngeren werden ebenfalls zunehmend Verschleißerscheinungen festgestellt, was zu einer alarmierenden Befürchtung führt: Der Tennissport, erfolgreich wie nie, frisst seine Kinder. Eine Saison der ATP ist mittlerweile elf Monate lang, und die Unvernünftigsten unter den Profis pressen anschließend noch ein paar lukrative Show-Turniere in den Kalender. Novak Djokovic hat im vergangenen Jahr 74 offizielle Matches gespielt, Nishikori 79, und Andy Murray brachte sogar 87 Partien hinter sich.

Mit dieser Schinderei hatte er sich die Weltranglistenführung erobert, den heiligen Gral des Sports. Er hat ihn letztlich verloren, weil sich der Körper wehrte. Die Nummer eins hat ihren Preis - und deshalb ist in dieser Woche in Wahrheit nicht Nadal, sondern ein humpelnder Murray die Referenzgröße im Tennis.

© SZ vom 21.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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