Kommentar:Der Mythos und die Spritze

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Wird ein Mythos heftig erschüttert, gleichen die Symptome und Folgen der Phänomenologie eines Erdbebens.

Von Thomas Kistner

Zumal, wenn die Erschütterung ein nationales Ereignis betrifft, das dem Land Identifikation geschenkt hat und dafür mit einem Glorienschein geadelt wurde.

Im Nachkriegsdeutschland gibt es wenig, was an den Fußballtriumph von Bern 1954 heranreicht. Das 3:2 über Ungarns Wunderelf gilt als Gründungsmythos der Bundesrepublik, nicht mal der Bundeskanzler brauchte sich, als im Vorjahr der Film zum WM-Sieg in die Kinos kam, seiner Tränen schämen. Nun wird das 3:2, das wie ein Monument aus der jüngeren Vergangenheit ragt, von einem ätzenden Verdacht umspült: Waren Herbergers Helden gedopt?

Rare Indizien

Die Indizien sind rar: Spritzenfunde, die Jahrzehnte lang nur ein dementiertes Gerücht waren, Zeitzeugen, die sich all die Jahre zum Schweigen vergattert sahen, und nun die späte Aussage des Mannschaftsarztes Franz Loogen, man sei damals "auf den Dreh gekommen, den Spielern Vitamin C zu geben".

Nachprüfen lässt sich nicht mehr, was gespritzt worden ist, auch gab es damals noch kein Dopingverbot im Sport. Erste Regeln wurden 1967 eingeführt, nach dem Tod des Briten Tom Simpson bei der Tour de France. Insofern hat es wenig Sinn, sich der Frage sportjuristisch anzunähern.

Aufgerollt gehört sie dennoch. Einmal, weil Loogen selbst den Verdacht äußert, dass aus dem häufigen Gebrauch derselben Kanüle jene rätselhafte Gelbsucht-Epidemie herrühren könnte, die Monate nach dem Triumph acht Spieler zur Kur zwang; überdies starben Jahre später zwei Akteure an Leberzirrhose. Zum anderen bemisst sich die Dopingfrage nicht nur an verabreichten Wirkstoffen, sondern an der Mentaliät, in der diese Einnahme erfolgt.

So betrachtet, wohnte dem legendären Kameradschaftsgeist von Spiez der stille Wunsch inne, die Grenzen des Machbaren künstlich zu verschieben - "eine Spur mehr", sagt Loogen, hätten die Spieler gewollt. Zudem entspricht es nicht der ärztlichen Ethik im Sport, gesunde Aktive mit Injektionen zu behandeln - in der Absicht, die Leistung zu verbessern. Es war immer so, dass genommen wurde, was Vorteile versprach - just Torschütze Rahn soll damals die Kameraden mit der Erzählung infiziert haben, dass die Brasilianer zu Medikamenten griffen.

Schlechtes Gewissen

Ob man es Doping nennt, ist weniger wichtig - im Raum stehen bleibt ja das schlechte Gewissen, mit dem die Vorgänge damals vertuscht wurden. Und unrühmlich bis heute ist der Umgang des DFB mit der Problematik - sie nur auf Substanzen zu reduzieren, die damals vergeben wurden, reicht angesichts der Begleitumstände nicht aus. Schon gar nicht im Hinblick auf mutmaßliche Langzeitfolgen bei einzelnen Spielern.

Aber die Berner Affäre hat auch einen anderen, nationalen Aspekt, um im Bilde zu bleiben. Sie ruft in Erinnerung, dass Deutschland nicht nur im (Fußball-)Sport, sondern auch im Doping stets einen Spitzenrang hatte - die mit einem eigenem Doping-Staatsplan versehene DDR schob sich 1988 sogar an den USA vorbei auf Platz zwei der Olympia-Medaillenwertung. Wer daran nicht gern erinnert wird, muss damit leben, dass die Vergangenheit jederzeit erwachen kann.

© SZ v. 1.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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