Kommentar:Das Zögern spricht Bände

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Jürgen Klinsmann verweigert ein klares Bekenntnis - und sagt damit doch viel.

Ludger Schulze

Die schönste Zeit als Berufsfußballer verlebte Jürgen Klinsmann in London. Dort, bei den berühmten Spurs von Tottenham, wurde so Fußball gespielt, wie es der schneidige Stürmer bis heute liebt: jugendfrisch, offensiv, aggressiv und risikoreich.

An der White Heart Lane war Klinsmann glücklich, in der Mannschaft fand er richtige Freunde wie Teddy Sheringham oder Sol Campbell, die englischen Nationalspieler. Er wurde 1995 sogar zu Englands Fußballer des Jahres gewählt, als Deutscher!, und verließ die Insel nach nur einem Jahr, weil er einem Angebot des FC Bayern München nicht widerstehen mochte.

Ungläubig bis todtraurig

Ungerührt ließ er ungläubige bis todtraurige Fans zurück. Tottenham-Präsident Alan Sugar verkündete verbittert, er würde ein Klinsmann-Trikot nicht einmal mehr zum Autowaschen verwenden.

Die soeben zu Ende gegangene WM ist für den Trainer Jürgen Klinsmann ein wahrer Gefühlsrausch gewesen. Noch keinem Bundestrainer sind derartige Gunstbeweise und Verehrungsbezeugungen entgegengebracht worden, quer durch alle Gesellschaftsschichten, von Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass über die Fußball-Nomenklatura mit Franz Beckenbauer an der Spitze bis zu Achtjährigen auf der Fanmeile.

Man muss in der Tat "der coolste Deutsche seit Marlene Dietrich" sein, wie der Londoner Observer einmal schrieb, um das Liebeswerben einer ganzen Nation zurückzuweisen. Jürgen Klinsmann kann so kühl sein, gravierende Entscheidungen trifft er mit dem Kopf - nicht mit dem Herzen.

Und deshalb kann es sein, dass bald ein anderer die Geschicke der Klinsmänner lenken wird. Die Mannschaft glaubt fest, ihr Trainer werde nicht mehr zur Verfügung stehen.

Er selbst hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass mit dem Abschluss des "Projekts WM 2006" auch sein Abschied gekommen ist. Sein Zögern spricht Bände, außerdem wäre es höchst untypisch für ihn, wenn er sich von Gefühlswallungen, auch den eigenen, übermannen ließe.

Verpflichtung zur Reform

Die Frage ist dann: Hat das Modell Klinsmann, der jugendfrische, offensive, aggressive und risikoreiche Fußball noch eine Zukunft? Mit einem der üblichen Verdächtigen wie Ottmar Hitzfeld, Matthias Sammer oder Christoph Daum? Eher nicht.

Aber DFB-Präsident Theo Zwanziger hat versprochen, dem potenziellen neuen Mann jenseits der WM eine Verpflichtung zum Reformkurs abzuringen. Es ist schwer vorstellbar, dass ein neuer Trainer dieser von Klinsmann infizierten Mannschaft den Fußball von vorgestern aufzwingen würde.

Ob der allerdings die Energie und Akribie Klinsmanns aufbringen würde, um dessen Tempo zu halten, ist ebenso unwahrscheinlich. Aber noch ist die Messe nicht gelesen, Deutschland wartet auf eine Nachricht von Jürgen Klinsmann.

© SZ vom 10.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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