Kommentar:Auszug aus dem Land der Riesen

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(Foto: Bernd Schifferdecker)

Was bewegt den Handball-Bundestrainer, 2017 eine Erfolgsgeschichte abzubrechen?

Von Klaus Hoeltzenbein

Sollte es wirklich Japan sein, wohin es Dagur Sigurdsson zieht, wäre umgehend an Vlado Stenzel zu erinnern. Lang ist es her, da war der quirlige Kroate ein Vorgänger des Isländers im Amt des Handball-Bundestrainers. Er genoss es, dass er als "Der Magier" gefeiert wurde, obwohl er 1974 bei seinem Amtsantritt gleich gestand, dass er von nichts weniger verstehe als von Zauberei. Er könne zwar erwachsenen Männern noch das Handballspiel beibringen, erklärte Stenzel, ihm fehle aber jede Fähigkeit, zu klein geratene Männer zum Wachsen zu bringen. Weshalb Stenzel aufbrach, um Riesen zu suchen. Allerorten sah man ihn, bei der A-Jugend, in der Bezirksliga, in der Verbandsliga, bis er genügend Großgewachsene geortet hatte. So intensiv tat er dies, dass Heiner Brand, Kurt Klühspies, Arno Ehret, Dieter "Jimmy" Waltke und Erhard Wunderlich - mit 2,04 Metern damals der Lulatsch im Lande - Weltmeister werden konnten 1978.

Bob Hanning hat bewiesen, dass man im Handball auch mit 1,68 etwas werden kann

Die Chance, es Stenzel gleich zu tun, hat Dagur Sigurdsson im Januar in Frankreich. Die dortige WM sollte für den 43-Jährigen nur eine weitere Etappe mit dem Nationalteam sein, jetzt ist es aller Voraussicht nach die Endstation. Was aber hat er vor? Was bewegt ihn dazu, spätestens im Sommer 2017 eine Erfolgsgeschichte abrupt abzubrechen? In der er so viele Zwei-Meter-Männer versammelt hat, dass es dunkel wird, sobald diese ihre Arme zur Hallendecke strecken? Wohin zieht es den Isländer, der von einer Ausstiegsklausel in seinem ursprünglich bis Olympia 2020 in Tokio definierten Vertrag Gebrauch machen will? Das ist gerade das heißeste Sportquiz im Lande.

Versucht man, sich der rätselhaften Motivlage Sigurdssons nach dem Multiple-Choice-Verfahren zu nähern, bieten sich Lösungen an, die denen des Fußballs verblüffend ähnlich sind: a) Nationalteam von Katar; b) Vereinsteam von Paris St. Germain, das von "Qatar Sports Investments" finanziert wird; c) FC Barcelona, allein schon, weil dieser im Bieten um jedwede Prominenz automatisch genannt werden muss, zumal die Handball-Filiale der Katalanen weit mehr Landesmeister-Europapokale sammeln konnte (neun) als Lionel Messi & Co. (fünf). Die Lösung d) nun, Olympiatrainer in Japan, wäre die Überraschung, die nicht mehr gar so erstaunlich erscheint, wenn man weiß, dass Sigurdsson von 2000 bis 2003 als Spielertrainer bei Wakunaga Hiroshima wirkte. Und dass ihn auch die Herausforderung, das Sushi zwischen die Stäbchen zu klammern, nicht nachdrücklich aus der Fassung gebracht haben soll.

Sigurdsson mag Japan, das Problem dort wäre aus der Perspektive eines ambitionierten Handball-Trainers ein anderes. Sogar für einen, der nahezu Magisches vollbracht hat, als er aus diesen Deutschen mit den Zitterhänden plötzlich wieder Europameister (Januar 2016) und Olympia-Dritte (August 2016) werden ließ. Denn im Schnitt werden Japaner nur 1,72 Meter groß, die Deutschen liegen bei 1,80 Meter - Tendenz steigend.

Womit man wieder bei jener Riesen-These von Vlado Stenzel wäre, sowie bei einem gewissen Bob Hanning. Hat Hanning doch bewiesen, dass man in diesem Sport Großes sogar mit 1,68 leisten kann, wenn auch nur als Vizechef beim Verband. Hanning nennen sie dort den Napoleon. Er hat mit einem einzigen Satz das Handball-Volk zu beruhigen versucht, das nun fürchtet, der abtrünnige Sigurdsson könne demnächst in Japan oder anderswo vom Lehrmeister zum Gegner werden. Hanning sagte: "Das Ziel Olympiasieg 2020 ist unumstößlich und wird erreicht." Widerstand offenbar zwecklos, da hat das Ziel keine Chance. Es wird sich Napoleon wohl fügen müssen.

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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