Kommentar:Atemlos

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Die vergebenen Torchancen des VfB Stuttgart sind mehr als Zufall. Sie beruhen auch auf einem Spielsystem, das die Mannschaft mitunter überfordert.

Von Christof Kneer

Bekannt ist, dass in der schönen, neuen Datenwelt des Fußballs nützliche und nutzlose Statistiken zu jeder Zeit abrufbar sind. Von den meisten Statistiken hat man schon mal gehört, neu war aber jene, die der Stuttgarter Trainer Alexander Zorniger nach dem Spiel gegen Gladbach präsentierte. Nicht nur, dass man in der Rangliste der sog. "herausgespielten Torchancen" auf Platz drei hinter Bayern und Dortmund liege; es gebe auch eine Auswertung "der Tausendprozentigen", wie Zorniger informierte, und in dieser Statistik komme sein VfB bereits auf die Zahl "26". Das bedeute nach sieben Spieltagen "fast vier glas-glasklare Chancen pro Spiel", sagte Zorniger und schaute drein, als sei das ein Kompliment für sein Team.

Bei der Deutschen Fußball Liga (DFL), die für den Spielbetrieb und die ordnungsgemäße Handhabung der Tabellen zuständig ist, wird der VfB Stuttgart mit dieser Logik nicht durchkommen. Die sog. herausgespielten Torchancen werden den Klub nicht retten, wenn er nach 34 Spieltagen immer noch bei drei Punkten steht. In Stuttgart sollten sie besser dazu übergehen, zumindest ihre glas-glasklaren Torchancen zu nutzen.

Die Geschichten, die man zuletzt aus Stuttgart erzählen konnte, leiden allmählich darunter, dass man ihr Ende schon kennt. Beim VfB merken sie ja selbst, dass es nach sieben Spieltagen nicht mehr rührend ist, wenn eine tapfer stürmende Elf am Ende immer verloren hat.

Die vergebenen Torchancen sind - ebenso wie die Abwehrfehler - Symptome der umfassenden Überforderung einer offensiv eigentlich hoch veranlagten Elf. Die letzten Jahre haben den Standort Substanz gekostet und anfällig gemacht für Schwankungen aller Art, und in diese empfindliche Gemütsverfassung platzt nun auch noch ein mutiges, aber radikales Spielsystem, das für eine ideale Welt konzipiert ist. Das System der fanatischen Vorwärts-Verteidigung fordert nichts weniger als elf über 93 Minuten hoch konzentrierte Athleten, die in jeder Sekunde dasselbe denken und machen. Das System ist eine extreme Herausforderung: sowohl für Abwehrspieler, die extrem schnell sein müssen (schneller als die beim VfB) als auch für Stürmer, die nicht nur von Gegnern, sondern auch von nach rennenden Mitspielern umstellt sind. So müssen die Stürmer unter höchstem Raum- und Zeitdruck durchs Nadelöhr treffen; die Attraktivität der Spielweise beruht auf einer Atemlosigkeit, die mitunter auf den Verursacher zurückfällt. Manchmal wirkt der VfB beim Torschuss schon gehetzt, obwohl noch 82 Minuten zu spielen sind.

Das Problem ist, dass der übereilige VfB seine Punkte gegen die normalen Gegner verloren hat, die großen Gegner kommen noch. Es wird Zeit fürs Punktesammeln. Es eilt also, ausnahmsweise.

© SZ vom 28.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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