Karrierende von Vitali Klitschko:Zeit ist der wunde Punkt

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Es geht nicht mehr. Mit einer Krankengeschichte, die sich liest wie die Einführung in die Sportmedizin, tritt Boxweltmeister Vitali Klitschko ab. Der 34-Jährige muss dem schnellen und schmerzhaften Boxerleben Tribut zollen. Eine Frage bleibt: Hatte der Ukrainer genug Zeit, um als großer Boxer in die Geschichte einzugehen.

Roland Schulz

Nun muss er doch so früh schon aufhören, im 140. Jahr seines Lebens als Boxer. Er hatte gehofft, mindestens seinen 154. Geburtstag im Ring feiern zu können, ja vielleicht gar den 161., den Schmerzen und Strapazen zum Trotz. Er hatte aber auch geahnt, dass es schwer sein würde. "Ein Boxerjahr", sagte Vitali Klitschko gerne, "zählt wie ein Hundejahr - vielleicht nicht ganz sieben Jahre, aber fast."

Jetzt hat der 34-Jährige, der im Alter von 14 und damit vor 140 Boxerjahren seine Karriere begann, dieses alte Sprichwort vom schnellen Leben der Boxer bewiesen: Er werde aufhören, gab er am Mittwoch bekannt. "In letzter Zeit habe ich mich leider mehr mit meinen Verletzungen als mit meinen Kontrahenten im Ring auseinandersetzen müssen." Da war klar, dass Vitali Klitschko den Kampf gegen seinen wahren Gegner verloren hat - die Zeit.

Mit Muskelriss fing alles an

Die Zeit ist das Problem", sagte Vitali Klitschko schon 2001, als ihm gerade das Kreuzband im linken Knie gerissen war, im Training vor einem Kampf gegen Ross Puritty. Bei anderen Boxern wäre das ein Unglück gewesen, mehr nicht. Bei Klitschko aber war es schon das Unglück Nummer zwei in seiner Laufbahn. Ein Jahr zuvor hatte Klitschko während eines Weltmeisterschaftskampfes gegen Chris Byrd überraschend aufgegeben, in der zehnten Runde, ein Muskel in der linken Schulter war gerissen.

Dieses Unglück Nummer eins war der Anfang einer Geschichte, die auch jetzt, mit Vitali Klitschkos Karriereende, nicht vorbei sein wird - die Geschichte eines Boxers mit so viel Verletzungspech, dass Zyniker Absicht vermuteten und Klitschko nur noch als "Weichei" verspotteten. Es war vor allem aber die Geschichte eines Kampfes gegen die Zeit.

Vitali Klitschko hatte das schon 2001 erkannt. Er wolle nicht zu sehr an die Zukunft denken, sagte er damals, aber die Zeit sei sein wahrer Gegner. Boxer und ihre Körper, so heißt es, altern schneller, wegen der Belastungen, denen sie sich unterwerfen. Deswegen stellten sich nicht nur Klitschko selbst, sondern auch viele Boxfans nach den ersten Verletzungen die Frage, ob er es schaffen würde, schneller großen Erfolg zu haben als sein Körper altert. Die Antwort muss nun zweischneidig ausfallen: Nein - und Ja.

Nein lautet die Antwort, weil Vitali Klitschko als Weltmeister im Schwergewicht nach Version des Verbandes WBC abtritt in einem Moment, in dem er diesen respektierten Titel gerade einmal verteidigt hat, Ende vergangenen Jahres. Der Kampf gegen Hasim Rahman, der am kommenden Wochenende stattfinden sollte, wäre die Bewährungsprobe gewesen, mit der sich Klitschko als wahrer Champion hätte etablieren können - einen Ruf, den ihm etliche Boxfans in seiner Karriere verweigerten, und zwar ausgerechnet wegen seiner vielen Verletzungen.

Nein, lautet die Antwort auch, weil Klitschko bei der momentanen Situation im Schwergewicht, das nicht mit harten und guten Kämpfern gesegnet ist, noch große Erfolge hätte feiern können: Seit seinem Weltmeisterschaftskampf gegen Lennox Lewis, einer erbittert geführten Schlacht, die er in der sechsten Runde verlor, weil der Ringarzt wegen einer tiefen Cut-Verletzung den Kampf abbrechen ließ, galt Klitschko zwar nicht als schöner Boxer, aber als großartiger Kämpfer. Seit Lewis seinen Titel niedergelegt hat, gilt Klitschklo als bester unter den übrigen, schwachen Boxern, die im Schwergewicht gerade Titel tragen.

Die Frage nach dem "wahren Champion"

Ja, lautet die Antwort jedoch, weil Klitschko gerade das erreicht hat, wenn auch in einer Zeit schwacher Titelträger: der beste unter den Weltmeistern zu sein, der "wahre Champion". Damit hat er etwas erreicht, was ihm lange Zeit nur wenige zugetraut hatten, vor allem nicht in den Vereinigten Staaten.

Nach seinem Kampf gegen Lewis sprachen amerikanische Kommentatoren von Klitschko so begeistert wie Marxisten von der Revolution: Der Ukrainer war nicht länger der "Bär aus dem Osten", der seltsame "Doktor Faust" mit Gelehrtentitel statt Kämpferherz, sondern in der Tat ein Boxer. In einer Sportart, in der nichts so sehr verhasst ist wie "quitters", also Menschen, die aufgeben, hatte sich Klitschko durch seinen gnadenlosen Kampf gegen Lewis Respekt verdient: Er, das vermeintliche Weichei, wollte nicht einmal aufhören, als ihm das Blut über das Gesicht lief. Erst der Ringrichter stoppte den Kampf.

Ja, lautet die Antwort auf die Frage, ob Klitschko schneller Erfolg hatte als sein Körper alterte, aber auch wegen seiner Anfälligkeit für Verletzungen: Klitschkos Körper war in dieser Hinsicht ein Sonderfall. Seine Verletzungsgeschichte liest sich wie bei anderen Champions die Liste der Titelkämpfe, anhand der Meldungen aus Klitschkos Lager konnten sich Boxfans fast schon auf ein Studium der Sportmedizin vorbereiten: Erst Riss des Supraspinatus-Muskels, das Unglück Nummer eins, dann der Kreuzband-Riss, 2002 ein Knochensplitter im Ellenbogen und dazu ein Bandscheibenvorfall, im März diesen Jahres ein Muskelfaserriss, im April ein Knochensporn an der Wirbelsäule und jetzt schließlich ein Meniskusriss am rechten Knie.

Seinen Kampf gegen Rahman verschob Klitschko wegen seiner jüngsten Verletzungen dreimal. Danach standen die Spötter, allen voran der bekannte Promoter Don King aus den USA, schon Spalier - es gab wieder einmal Häme satt für Vitali Klitschko. Dabei ist Spott kaum angebracht. Immerhin gelingt ihm am Ende seiner Karriere etwas, das die wenigsten Titelträger im Schwergewicht geschafft haben: unbesiegt als Weltmeister der WBC abzutreten.

© SZ vom 10.11.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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